Die Norken Tirols

Neben den Saligen Fräulein und den Wilden Männern spielen auch die Norken in den Sagen Tirols eine bedeutende Rolle. Diese Zwerge werden als steinalte und hässliche Männchen geschildert. Ein großer Kopf sitzt auf dem kleinen Körper und ein langer, grauer Bart wallt über einen dicken Bauch, dessen Last die krummen, spindeldürren Beinchen kaum tragen können.

Unzählig sind die Geschichten von den schlimmen Streichen dieser Gnomen.

Sie trieben ihren Schabernack mit den Menschen und waren voll Bosheit und Tücke, aber meist auf so harmlose Weise, dass sie stets die Lacher auf ihrer Seite hatten.

So ärgerten sie die Fuhrleute, indem sie sich wie Gassenbuben scharenweise an ihre schweren Weinwagen hängten, dass die Pferde kaum mehr weiterkonnten, wenn es dann bergab ging, sprangen sie ab und schoben an, dass der Kutscher nicht selten in arge Not geriet.

Den Bäuerinnen legten sie Schlingen auf die Türschwellen, damit sie mit den vollen Schüsseln hinfallen sollten, und den Bauern räumten sie die Räucherkammern aus und holten ihnen das letzte Fass Wein aus dem Keller.

Sie verliebten sich gern in junge, schöne Mädchen und Frauen und spielten ihnen oft böse mit, wenn sie einen Korb bekamen. Doch gab es auch gute und dankbare Norken, und von so einem soll diese Sage erzählen.

Es war an einem kalten, dunklen Novembertag, ein eisiger Schneesturm wehte von den nebeligen Höhen, als ein kleines Männlein nach dem Vesperläuten, müde und vor Kälte zitternd, durch das Bergdorf Matsch wankte. Die weißen Haare des Kleinen flatterten in dem scharfen Wind um das runzelige Gesicht, und die Augen blickten verzagt die Häuser entlang und hinauf zu der tiefverschneiten Nörkelspitze. An einem Haselstock, den es über der Schulter trug, hing ein Bündel, das der Alte kaum mehr zu schleppen vermochte.

Schwer atmend blieb er vor dem ersten stattlichen Bauernhof stehen und klopfte nach kurzem Zögern schüchtern an das Tor. Nach einer Weile wurde ein Fenster geöffnet, ein aufgedunsenes, finsteres Gesicht reckte sich heraus, und eine barsche Stimme rief: " Wer ist da draußen? Bei mir gibt es kein Nachtlager für Bettler und Landstreicher, schau dass du weiterkommst, sonst hetze ich dir meinen Hund auf den Hals!"

Nur eine halbe Stunde Unterstand, bis das ärgste Wetter vorbei ist, nur ein kleines Stückchen Brot für meinen Hunger", bat das Männlein mit aufgehobenen Händen. Aber der reiche Bauer war hart. Er schlug das Fenster zu, dass die Scheiben klirrten, und ließ den armen Alten in Wind und Schneegestöber draußen stehen.

Da hob das Männlein plötzlich stolz den Kopf, seine Augen funkelten in der Dämmerung vor Zorn, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seine Lippen, als es die Worte murmelte:" Morgen oder heute kommt euere Zahlzeit."

Der Nork, denn einer von diesen uralten Zwergen war der Bettler, ging nun von Haus zu Haus, von einer Tür zur anderen, überall bat er um Herberge und Brot, doch nirgends wurde er aufgenommen.

Endlich kam er vor die letzte Hütte des Dorfes. Recht armselig sah dieses Häuschen aus, und nur aus einem Fenster drang schwacher Lichtschein. Der Zwerg spähte neugierig durch die angelaufenen Scheiben. Da ging die Tür auf, und ein frisches, freundliches Mädchen fragte mit heller Stimme nach seinem Begehr. Das Männlein wiederholte seine Bitte.

"Oh du Armer!" rief das Dirndl, "komm nur schnell herein, setz dich zum Ofen und wärme dich, derweil ich dir eine heiße Suppe kochen will." Gerne folgte der Nork der Aufforderung, und während das Mädchen in der Küche hantierte, kauerte er sich wohlig hinter den warmen Kachelofen und schaute sich in der Stube um.

Bald stand eine Schüssel voll dampfender Suppe vor ihm auf dem Tisch, und seine junge Wirtin setzte sich mit den Worten: "Jetzt iss, Mandl, und Gott segn dir es!" zu ihm. Der Alte ließ es sich schmecken, und die Dirn erzählte ihm währenddessen ihre kurze Geschichte.

Mariandl hatte vor zehn Jahren den Vater verloren, die Mutter war von dieser Zeit an immer krank, und sie hatten weder für den Doktor noch für Arzneien das nötige Geld. So war Frau Sorge der tägliche Gast in der ärmlichen Hütte.

Da ließ der Nork die Suppe stehen, er stand von seinem warmen Ofenplatz auf, ging leise nebenan zu dem Lager der schlafenden, kranken Frau und betrachtete aufmerksam ihr eingefallenes Gesicht. Dann langte er in sein Bündel, holte ein Päckchen duftender Kräuter hervor und gab es dem Mädchen: "Deine Mutter ist vom Mond krank geworden, liebes Kind, so merkwürdig es auch klingen mag, jedoch dieser Mondtee wird sie wieder gesund machen. Immer bei Vollmond soll sie ihn trinken; am Weihnachtsabend aber musst du nach dem Betläuten auf die Nörkelspitze gehen und frische Kräuter holen, die werden dann ihre Heilung vollenden."

Erschrocken rief das Mädchen: " Zu Weihnachten auf die Nörkelspitze, da müsste ich ja im Schnee zugrundegehen!" Doch der Alte lächelte aufmunternd: "Fürcht dich nur nicht, wenn du zum alten Wetterkreuz im Almgrund kommst wo der Steig aufhört, brauchst du nur dreimal meinen Namen zu rufen: "Kruzinigele!", darnach komme ich und helfe dir weiter."

Mit diesen Worten nahm das Männchen sein schweres Bündel wieder auf, drückte das verblichene Filzhütl tief in die Stirn und verabschiedete sich von seiner jungen Wohltäterin.

Der eisige Wind hatte sich gelegt, und der Mond schien hell durch die Wolken auf das verschneite Tal. Marianne schaute dem Davoneilenden nach, und ein leiser Schauer überlief sie, als das kleine Männlein in der Ferne immer größer und größer wurde und schließlich als riesenhaftes Nebelgebilde zur Nörkelspitze emporschwebte.

Die Mutter des Mädchens trank von dem Tee und verspürte sogleich eine Besserung ihres Leidens. Als aber Weihnachten näher rückte, verschlimmerte sich ihr Zustand, und sie verbrachte wieder Tag und Nacht auf ihrem Lager wie zuvor.

So kam der Christabend, und Mariandl saß traurig am Bett der kranken Mutter und horchte auf ihre schweren Atemzüge. Draußen fegte der Wind heulend durch die Gassen und trieb die Schneeflocken vor sich her. Da rief die Aveglocke zur Andacht, und Marianne dachte an die Worte des Alten. Leise holte sie ihren Wettermantel und einen festen Bergstock und ging eilig durch Nacht und Schneetreiben der Nörkelspitze zu.

Der Schnee lag hoch, und in Wind und Finsternis bahnte sich das tapfere Mädchen mühsam seinen Weg. Immer, wenn Marianne vor Erschöpfung innehielt, spürte sie eine unsichtbare Hand, die ihr weiterhalf, und von Zeit zu Zeit fuhr ein blendender Lichtstrahl über den Himmel und erhellte für Sekunden den dunklen Wald.

Je höher sie kam, um so leichter wurden ihre Füße, und endlich erblickte sie zu ihrer Freude das Wetterkreuz, von dem der Alte gesprochen hatte. Nun wollte sie ihren Beschützer rufen - aber wie hieß er den nur? Sie zermarterte sich den Kopf, doch der eigenartige Name war ihrem Gedächtnis vollkommen entschwunden. So saß Marianne lange und verzweifelt neben dem Wetterkreuz, bis der Schlaf sie überwältigte. Ein eisiger Wind wehte über die Alm, und das Mädchen lag regungslos im tiefen Schnee.

Da begann es sich auf einmal zu regen. Eine Felsenplatte öffnete sich, und aus der Tiefe des Schachtes stiegen Zwerge mit Fackeln und huschten zu der Schläferin. Sie hoben Marianne vorsichtig auf ihre Schultern und trugen sie mit sich fort.

In einem großen, von vielen Kerzen erhellten Saal saß der König der Norken mit seiner Tochter auf einem funkelnden Thron aus Bergkristall, und seine kleinen Untertanen sprangen fröhlich um ihn herum.

Marianne wurde hereingetragen und vor den schimmernden Stufen des Thrones niedergelegt.
Die Zwerge waren ganz still geworden, und der Herrscher schritt die Treppe herab und drückte der Schlummernden einen leisen Kuss auf die Stirn.

Grenzenloses Erstaunen malte sich in des Mädchens Augen, als es in dieser Märchenwelt erwachte. Doch die Norken ließen Marianne keine Zeit zur Besinnung. Alle drängten sich herzu und küssten sie, und des Königs Töchterlein überhäufte sie mit kostbaren Geschenken.

Der Nörkelkönig fragte das verschüchterte Mädchen:" Kennst du mich noch, Marianne? Oh, ich erinnere mich noch gut deiner freundlichen Pflege, aber ich habe mir auch die schlechte Behandlung deiner Nachbarn gemerkt. Nun, morgen oder heute kommt ihre Zahlzeit!"

Darauf griff er vergnügt nach der Hand Mariannes, an der anderen führte er seine Tochter, und so stiegen die drei viele hell erleuchtete Treppen empor. Als sie durch eine niedere Pforte ins Freie traten, riss das Mädchen vor Staunen Mund und Augen auf. Eine grüne, sonnige Almwiese dehnte sich vor ihnen aus. Tausende von Blumen blühten und dufteten unter blauem Frühlingshimmel, und die Vögel zwitscherten und tirilierten, dass es eine Freude war.

Des Nörkelkönigs Tochter pflückte eine Handvoll großer, gelber Blütensterne, denen ein würziger Duft entströmte, und überreichte sie dem Mädchen:" Das ist der Mondtee, Marianne. Gib ihn deiner Mutter zu trinken, dann wird sie ganz gesund."

Die Norken verabschiedeten sich nun freundlich und verschwanden in einer Felsenspalte. Marianne aber stand wieder in Nacht und Wind neben dem Wetterkreuz. Hätte sie nicht die duftenden Kräuter und die kostbaren Geschenke in den Händen gehabt, so wäre ihr alles wie ein leerer Traum erschienen.

Nun lief sie schnell und glücklich bergab und erreichte das Dorf gerade, als die Glocken zur Mette riefen.

Die Mutter trank den Kräutertee und wurde noch in derselben Nacht gesund.
Freilich wunderten sich die Leute des Dorfes sehr über ihre plötzliche Heilung und über den bescheidenen Wohlstand, der auf einmal in der armseligen Hütte herrschte, aber sie fanden keine Erklärung dafür.

Spät, wie immer in den Bergen, kam der Frühling in das Land, und um Johanni trieben die reichen Dorfbauern ihre zahlreichen Herden auf die Hochweiden. Jetzt sollten die hartherzigen Menschen die Rache des Königs der Norken zu fühlen bekommen.

Auf den schönen, saftigen Wiesen starb plötzlich das Gras ab, das Vieh wurde krank und mager, es stürmte dauernd, und nachts rollten gewaltige Felsbrocken krachend an den Almhütten vorbei, so dass die Hüter und Senner entsetzt aus dem Schlaf fuhren. Das gab den Leuten zu denken, und eines Tages pilgerten die ganze Gemeinde mit Kreuzen und Fahnen zur Alm hinauf, um sie zu segnen und das Unheil abzuwenden, doch dazu kam es gar nicht.

Ein fürchterliches Unwetter mit Blitz und Donner, Hagelschlag und Regen jagte die Wallfahrer in wilder Flucht zu Tal, und der Nörkelkönig mit seinen Zwergen kegelte noch ein paar große Steine hinterher - sie sind heute noch an den Flanken der Nörkelspitze zu sehen. Drei Tage und drei Nächte hindurch schneite es unaufhörlich, bis die Kasern und Weiden mit mannshohem Schnee bedeckt waren.

Nur mit Mühe konnten Sennen und Hirten das Vieh in das Tal hinuntertreiben. Seit jener Zeit lag die Alm verlassen, und die Norken waren Alleinherrscher in ihrem Reich. - Doch wohin sind die uralten Männchen verschwunden?

Kein Mensch hat sie je wieder gesehen.

Quelle: Das große Buch der Alpensagen, Gretl Voelter, Innsbruck 1993, S. 41ff