Die „Willeweis"

„Das sagte schon die Willeweis", heißt es heute noch oft, besonders bei älteren Leuten, wenn es um die Erfüllung von Weissagungen geht. Doch niemand kann genau sagen, was sie sich darunter vorstellen. Manche meinen mit der Willeweis ein altes Weiblein, das etwas Geheimnisvolles hat, unheimlich und gespenstig. Seine Gedanken haften nicht in der Gegenwart, es schaut im Geiste Vergangenes und Werdendes und zieht Neuerungen und Fortschritt argwöhnisch in seine Voraussagen ein.

„Das steht schon in der Willeweis", da denkt man an ein altes Zauberbuch voller Weltweisheiten, das das alte Weib besitzen soll!

Auch an anderen Orten Südtirols wird die Willeweis genannt. In Lengstein sagt man, dass einer mit ihr über die Weltordnung nachgegrübelt hat, Zauberbücher las und von ihr allerlei Künste lernen wollte. Sie sitzt oft auf einer Waldlichtung unter einer alleinstehenden Lärche.

In Welschnofen hält sie sich am liebsten unter alten Tannen oder breitästigen Buchen auf. Sie kommt und geht, niemand weiß wohin. Sie öffnet nur dann und wann den Mund, um von der Vergangenheit und Zukunft zu reden. Die Rede ist kurz und spruchartig. Die bekanntesten Weissagungen, die das ganze Land betreffen sind: „Wenn nicht mehr das Ross den Wagen zieht, sondern der Wagen das Ross, wenn die Welt mit Drähten verhängt ist, wenn das Wasser aufwärtsrinnt, dann ist es nicht mehr weit bis zum Weltuntergang. Die Faschisten werden so klein werden, dass sie unter einem Baum Platz finden.

Weissagungen, die unsere Gegend betreffen:

Der Schnalsbach wird einst über Katharinaberg ober den Moarhöfen herausrinnen. Vielleicht erfüllte sich diese Voraussagung durch den Stollenbau.

Der Stein in der Guflgand wird einmal auf die Stegerwiese heraus kommen. Das wäre beim Ausbruch des Stausees von Vernagt sicher der Fall.

Schnatz wird einmal auf den Mösern landen. Tatsächlich bewegt sich der Berg talwärts. Nach Aussagen eines Bewohners ist er bloß ein hohles Gebirge, wie Bohrungen in achzig Metern Tiefe ergaben. Früher einmal hat sich angeblich von Ginzl bis auf Staud eine Kluft aufgetan.

Zum Großteil sind die Prophezeihungen eingetroffen, und die älteren Leute glauben heute noch fest an die Erfüllung dessen, was in der Willeweis steht.

Quelle: Sage, Brauchtum und Geschichten in und um Naturns. Maria Gerstgrasser. Naturns 2003. S. 111