Riesen erbauen St. Prokulus

Ein Riese hauste in einer Höhle in der Nähe des Naturnser Schießstandes. Sein Freund hatte seine Behausung am Vigiljoch. Sie besuchten sich öfters, denn es brauchte nur einige Riesenschritte, um eine solche Entfernung zurückzulegen. Sie waren aber sehr träge und wollten keinen überflüssigen Schritt machen Sie setzten sich lieber auf abschüssige Steinplatten, um ins Tal zu rutschen. Dabei entstanden die Felsenschliffe, die man heute noch deutlich sehen kann. Die beiden Riesen waren sehr fromm und gottesfürchtig. Das kleine Naturnser Kirchlein aus Holz war sehr baufällig geworden. Darum beschlossen sie, in der Nähe ihrer Behausung eine Kirche aus Stein zu bauen. Der eine erbaute sein Kirchlein am Vigiljoch, wo einst eine heidnische Opferstätte gestanden hatte, und der andere wollte den Standort durch Steinwurf festlegen... Er nahm einen Stein und schleuderte ihn mit voller Wucht in das Tal. Dort, wo der Stein aufprallte, sollte das Prokuluskirchlein erbaut werden.
St. Prokulus, Naturns, Vinschgau, Südtirol, © Wolfgang Morscher

St. Prokulus Kirchlein, Naturns, Vinschgau
© Wolfgang Morscher, 28. September 2003

Geschäftig gingen beide ans Werk. Sie hatten aber nur einen einzigen Hammer, den sie sich gegenseitig, gezielt und mit großer Wucht zuwarfen und zwar vom Vigiljoch zum Prokuluskirchlein und immer wieder zurück. So konnte der eine Riese rasten, während der andere arbeitete. Trotzdem wurde der Bau bald vollendet. Darüber freuten sich die Leute aus der Umgebung so sehr, dass sie die Riesen aus Dankbarkeit reich belohnten. Sie konnten sich in der Nähe der Höhle am Schießstand ein Riesenschloss erbauen. Doch den einen Riesen zog es zurück in seine Bergheimat am Vigiljoch. Der Naturnser Riese erwählte eine Mesnertochter zur Frau und beide lebten sehr glücklich und zufrieden, umgeben von vielen Kindern, auf dieser Riesenburg.

Von großen Leuten in Naturns sagt man heute noch: „Die stammen bestimmt von diesem Riesen ab."

Riesen als Baumeister sind ein beliebtes Sagenmotiv. So wurden zum Beispiel auch die Kirchlein St. Kathrein in der Scharte (Hafling) und St. Jakob auf Lafenn, der Sage nach auf solche Weise erbaut.

Quelle: Sage, Brauchtum und Geschichten in und um Naturns. Maria Gerstgrasser. Naturns 2003. S. 79