DIE PRONNER STAS

Der Monat November bringt für Durnholz den Winter. Auf dem See bildet sich eine feste Eisdecke, die bis Ende April anhält. Sobald die Durnholzer feststellen, daß der Fuchs über den See gegangen ist, ist dies ein verläßliches Zeichen, daß die Eisdecke trägt, und sie fahren dann mit ihren schweren Holzfuhrwerken über den See.

Auf dem Pronnhof lebte einst als einzige Tochter die schöne Stas (Anastasia), die von einem Schwarm Verehrer umworben war. Sie wußte sich von ihnen kaum zu erwehren, konnte sich aber nicht entscheiden, wen von allen sie zum künftigen Pronnbauer erwählen sollte, und so gab sie an einem Durnholzer Kirchtag bei Musik und Tanz bekannt: "Mich und den Pronnhof kriegt der, der in diesem Winter als erster mit einer Muselfuhre über den See fährt!"

Dieser erste aber wollte unter allen Umständen der ötzer-Niggl sein, und er wartete nicht ab, bis die Spur zeigte, daß der Fuchs den See überquert hatte; die Eisdecke war aber noch zu dünn, sie hielt nicht stand, und er versank mit Roß und Schlitten in der eisigen Tiefe.

Als die Pronner Stas Kunde erhielt von dem schrecklichen Unglück, sank sie, vom Herzschlag getroffen, tot zu Boden.


Quelle: Oberkalmsteiner, Luis, Erzählungen aus dem Sarntal. Bozen 1968. S. 22