WIE DIE PLATZLINERIN IN TIERS ENTFÜHRT WURDE

Eine Platzliner-Bäuerin sollte in die Kirche gehen, um aufgesegnet zu werden. Damals war aber der Gang zum Aufsegnen überaus gefährlich, denn es wimmelte das Tal von Unholden, die es besonders arg auf die ungesegneten Wöchnerinnen hatten. Es durfte kein Weib vor ihrem Aufsegnen allein vor die Haustür treten.

Deshalb wurde die Platzlinerin von ihrer Dirn zur Kirche begleitet. Als sie vor die Kirchenstiege gelangten, blieb die Dirn drei Schritte zurück, und alsogleich war die Bäurin samt ihrem Kinde verschwunden. Der Bauer und mit ihm das halbe Dorf ging aus, das Weib zu suchen; sie durchstreiften das ganze Tal, doch vergebens. Da sah eines Tages jemand die Platzlinerin hoch oben in einer Felsenwand; sie rief zu der Person hinab und bat sie, ihrem Bauer zu sagen, er solle von da ab am dritten Tage um zwölf Uhr mittags auf einem von ihr näher bezeichneten Platz sein. Dort werde er sie mit dem Kinde sehen und müsse dreimal um sie herumtanzen, erst dann dürfe er auf sie zugehen, und sie werde wieder ihm gehören.

Der Bauer begab sich zur bestimmten Stunde auf den bezeichneten Platz, wo auch schon das Weib stand mit dem Kinde auf dem Arm. Er tanzte um sie herum, vergaß aber zu zählen und stürzte sich schon nach dem zweiten Rundtanz auf sein Weib, um es zu fassen. Da schrie die Bäurin laut auf vor Schmerz und verschwand wieder samt dem Kinde. Der Platzliner hörte sie noch lange schluchzen und klagen, sehen konnte er sie aber nicht mehr.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 407