Der Marmolédaferner.

Wenn man von Buchenstein auf der Dolomitenstraße nach Westen wandert, biegt nach einer Viertelstunde links ein Weg ab. Der geleitet uns tief hinab zu den lärmenden Wogen des Kordéwol und führt uns dann wieder jäh empor in das Dörflein Ornella. Vom November bis zum Hornung spielt kein Sonnenstrahl um diese Dächer.

Hier lebten einmal vor vielen hundert Jahren zwei Brüder: Michel hieß der ältere, Barthel der jüngere. Ihr Vater war unlängst gestorben und hatte ihnen reichen Besitz hinterlassen, jedem einen eigenen Hof, weite Wiesen, Wald und Weide. Es hätten beide mit ihrem Erbteil glücklich und zufrieden leben können, doch anstatt sich dessen zu freuen, was ihnen zugefallen war, stritten sie sich um eine Flucht von Wiesen oberhalb Fedaja, die der Vater offenbar ihnen beiden zu gemeinsamem Besitz hinterlassen hatte.

Denn so genau sonst dem einen und dem andern der Brüder sein Erbe zugemessen war. über diese Wiesen war im letzten Willen des Vaters keinerlei Verfügung getroffen. Wohl bedeckten die Wiesen ein weites Land und es wuchsen auf ihnen gar saftige Kräuter und Blumen, doch da das Heu eine Tagesreise weit bergab und bergauf zu führen war, erschien dieser Besitz keineswegs besonders wertvoll. Es war oft genug geschehen, dass der alte Bauer das Heu auf der Marmoléda wachsen und verderben ließ, ohne es heimzuholen, hatte er doch in nächster Nähe dessen in Fülle, was er für seine Tiere brauchte.

Aber gerade diese Wiesen wollten der Michel und der Barthel, jeder zu seinem eigenen, ungeteilten Besitztum haben. Grimmig entbrannte der Streit und vergebens schlug der "Richter von Buchenstein Vergleich um Vergleich vor, die beiden Brüder hatten zu harte Köpfe.

Als dann der jüngere Bruder verschiedene Zeugen dafür brachte, dass der Vater die Marmolédawiesen ihm des Öfteren zugedacht hätte, und sogar einen Eid ablegte, der Alte hätte sie ihm wiederholt verheißen, sprach der Richter, wohl mehr in der Absicht, endlich einmal Ruhe zu haben, als überzeugt von den Behauptungen und Beweisgründen Barthels, die Wiesen diesem zu.

Michel tobte wie ein Wahnsinniger, er beschuldigte seinen Bruder eines falschen Schwurs und verfluchte die Wiesen und jedes Kraut auf ihnen. Ewiger Schnee soll sie bedecken und den meineidigen Schurken begraben, das war sein Wunsch, so oft er auf die Marmoléda zu sprechen kam.

Im Frühjahr war der Streit entschieden worden und anfangs August zog Barthel mit Weib und Kindern, Knechten und Dirnen, Ochsen und Wagen aus, um das Heu einzuholen. Frühmorgens brach er auf; mühsam ging es empor bis zur Padónscharte. Von hier aus sah er die grünen Wiesenfluren schon herüberwinken; das musste ein Heu sein, seit fünf Jahren war kein Gräslein da drüben geschnitten worden, denn solange hatte der Streit der Brüder gedauert.

Vom Sattel stieg er dann hinunter nach Fedaja, dort standen noch von Vaters Zeiten her die Schupfen, die das Heu bis spät in den Herbst hinein bergen sollten, denn dann erst pflegte man's nach Ornella zu bringen.

Man bezog die Schupfen als Wohnung für die zwei oder drei Wochen, die man hier hausen und arbeiten wollte. Reges Leben entstand nun in dieser Einöde, laut erschollen die Hammerschläge vom Tengelstock, hell klirrte der Wetzstein an den Sensen, Lieder ertönten und Juchschrei, Kinderlärm und Übermut der Großen. Vorne standen die Männer und bahnten Gasse neben Gasse in die blumige Wildnis hinein, in grünen Schwaden sanken die Kräuter unter den sausenden Sensenhieben, dann kamen die Weiber und streuten die geschnittenen Gräser über das Wiesenstoppelfeld, die Sonne aber dörrte die welkenden Blumen und veratmenden Kräuter zu duftendem Heu. Hinterdrein kamen die Kinder und tollten und hetzten den langen Tag. Sie schienen den Dirnen helfen zu wollen und störten die Arbeit, zerzausten, was zusammengescharrt, purzelten von Schober zu Schober.

Bei dem allerprächtigsten Wetter, das man sich nur zum Heuschnitt denken kann, verflogen so zwei Wochen. Stieg schon einmal am tiefblauen Himmel ein Wölklein auf, so huschte es alsbald wieder scheu und flüchtig vorüber.

Schon war der größte Teil des Heus in die Schupfen eingestampft, nicht mehr als die Mahd eines Tages, der Rest der ganzen Heuernte, lag noch auf den glattgeschorenen Wiesen ausgebreitet, da sank der Abend und auf den nächsten Tag fiel Mariahimmelfahrt, das höchste Fest des ganzen Sommers, der Hochunserfrauentag.

Die Knechte und Mägde heischten Urlaub vom Bauern, sie wollten nach Ornella, um den Tag festlich zu begehen, wollten in die Messe und zum Umgang.

"Es soll niemand glauben, wir hätten kein Recht mehr, mitzugehen mit Kerze und Kranz", bemerkte eine der Mägde schnippisch, als der Bauer mit der Erlaubnis zögerte.

"Ach, was ist euch der Umgang", brummte der, "zum Tanz wollt ihr, ich dürfte es nicht wissen."

"Wäre auch nicht zuviel, wenn wir einmal wieder eine Freude hätten nach der Arbeit und der Plag hier oben."

Und dann stiegen sie, die Knechte und Mägde mit den älteren Kindern, zur Padónscharte hinauf. Nur die Bäurin blieb mit den drei Kleinen beim Bauern.

Am Feiertag schien dem Barthel das Nichtstun gar nicht zu behagen. Er schlenderte neben den Schupfen auf und ab und überprüfte das Wetter. Von Westen her zog ein Wölklein über den Himmel. Das war ihm Grund genug, um ein großes Leintuch herauszuholen und auf die Marmolédawiesen hinaufzusteigen. Nach einer Stunde kam er wieder, unter einer schweren Last keuchend. Er lud das Heu ab und wollte abermals zu Berg. Da greinte die Frau, dass er sich an dem hohen Frauentage so plage und schinde. Wie er die Mutter Gottes nur so kränken könne.

"Mutter Gottes hin. Mutter Gottes her." spottete der Bauer, "das Heu im Stadel ist mir lieber."

Und wieder stieg er hinauf und trug das Heu auf sein Leintuch zusammen. Eben wollte er die Ecken des Tuches aneinanderknüpfen, da wich die Sonne. Er schaute auf - der Himmel hatte sich mit Wolken überzogen. Er sah nach rechts und links, da schien es ihm, als ob die Felsenzacken wunderliche Fratzengesichter annähmen und sich verzerrt bewegten.

Immer finsterer wurde es, und als er sich die Last aufhalsen wollte, da fing es - jetzt im Sommer - zu schneien an. Wie Flaumenfedern aus einem Überbett geschüttelt, fielen die Flocken nieder. Da warf der Bauer die Last zu Boden und kroch ängstlich bebend unter das Heu.

Es schneite fort und fort. Längst war der Bauer und sein Heubündel begraben, haushoch, turmhoch lagerte der Schnee. Soviel Schnee fiel damals vom Himmel, dass ihn die Sonne bis auf den heutigen Tag nicht wegschmelzen konnte und dass die grünen Marmolédawiesen mit ihren duftenden Kräutern und buntfarbigen Blumen bis heute noch ein mächtig großer Ferner bedeckt.

Quelle: Laurins Rosengarten, Sagen aus den Dolomiten, Franz S. Weber, Bozen 1914, S. 122-127.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bernd Wagener, März 2005.