DIE ERZERLAHN

Vor alters lag hinter Welschnofen eine schöne Alm, heute die Erzerlahn genannt. Mit dem ersten Frühlingsstrahl entsproß saftiges Grün der Alm, und die Bauern trieben auf, arm und reich; es war eine Gemeindealm. Das wurmte den Vorsteher schon lange; so ließ er auf einmal die Gemein aufteilen, und die armen Leute, die bloß ein Kühlein hatten oder zwei, fielen durch. Daß sie ihm nicht beteten, kann man sich wohl denken, sie fluchten und fluchten die Alm zu Stein und Gant. Die Großbauern dagegen lachten sich in die Fäuste und waren guter Dinge. Unbekümmert, ob recht oder unrecht, ließen sie ihr Vieh auf die Weide gehen, doch es sollte nicht lange grasen.

Eines Tages entbot der Herder herab, es fange die Alm an zu sinken und der Wasen werde immer "fleazer" (dünner), ob er nicht abtreiben dürfte, er getraue sich keinen Tag mehr zu bleiben.

Der Vorsteher schüttelte seinen Schädel und meinte, als dann, wenn dem so sei, solle er nur abtreiben. Und der Hirt trieb am nächsten Tage ab. Schellengeklingel und Hirtenrufe hallten über die weite Alm hin, noch einmal glänzten die Hochweiden im Sonnenschein, dann wars aus. Es tat einen Riß und einen Kracher und alles fiel zusammen, kaum daß das letzte Stück Vieh herunter war. Keine Wiese, kein Wasen, nur eine wilde Steinlammer breitet sich seit der Zeit in der Gegend aus, im Volk die Erzerlahn genannt.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 397