DER WALD BEWEGT SICH

Von Rein heraus ins Tauferer Tal führt der Weg zwei Stunden lang durch einen überaus wildromantischen Wald. überall liegen Steine und Felsblöcke umher, links und rechts steigen die Berghänge fast senkrecht empor, hart neben dem Weg tost der wütige Reiner Bach mit seinen schrecklichen "Tobeln". Im Winter ist man da den Lawinen, im Sommer dem Bergrutsch ausgesetzt, wobei oft ganze Felsen mit herabkollern.

Aber in diesem Wald ist's auch sehr unheimlich. Man erzählt sich alles Schreckliche davon. Sehr oft ist es den Leuten begegnet, daß, wenn sie des Nachts von Taufers nach Rein auf dem Weg waren, auf einmal der Reiner Wald in Bewegung gekommen ist von oben nach unten. Aber nicht nur die Bäume, sondern auch ganze Steinkolosse hoben an, auf den Wanderer herabzurutschen, und zwar mit einem so entsetzlichen Gepolter, daß es schien, als brüllten lauter wilde Tiere durch den Wald. Aber davonlaufen darf keiner aus Furcht, sonst hat er kein Glück mehr in der Welt; derjenige hingegen, der schneidig vorwärts geht und die Gefahr nicht achtet, wird ein ausgesuchter Glücksvogel.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 618 f.