Vorwort

Auch das Volk dichtet:

In seinen Liedern, in seinen Sagen.

Stoff sind ihm Glaube und Erlebnis. Eines Volkes Erlebnis ist seine Geschichte.

Schauen wir aus einer Fensterhöhle der trutzigen Ruine Hocheppan.

Der entzückte Blick klimmt die Dreitausender der Texelgruppe hernieder zum Schlosse Tirolo, senkt sich längs der weinbestandenen Hänge des Küchelberges zum behaglich hingelagerten Merano, gleitet das sonnfunkelnde Band der Etsch herunter bis in die weite Ebene des Bozner Bodens, freut sich der weißleuchtenden Dörfer, weidet sich an zahlreichen Einzelgehöften mit oft unenträtselbaren Namen, gebettet ins Grün der Wiesen und Wälder, zählt an die dreißig Burgen und senkt sich — versonnen — in sich: Dieser Erdenstrich atmet Erlebnis!

Wir schauen aus einer zerbröckelnden Fensterhöhle des einst so stolzen Hocheppan und —: ein Zug pfaucht die Etsch entlang durch's Tal und drüben an der Berglehne wirbelt ein Auto, in Staub gehüllt, dahin: — heute!

Einstmals (noch weit vor Olims Zeiten) war dies fruchtreiche Tal bis über den Rand mit Eis gefüllt. Mühsam schmolz es die Sonne hinweg und löste es zu einem lieblichen Fjord der Adria, der seichter wurde, bis in dichten Auen und im breiten Sumpfgelände die Jäger der Wallburgen am Sinichkopfe, von Hippolyt, dem Segenbühel mancherlei Wild mit Steinschleudern und geschärften Knochen erlegten.

Christus ward geboren.

Wenige Jahre früher schon zogen wohlgeordnete Legionen römischer Cäsaren durch das Tal, das nach Jahrhunderten zügellose Horden der Völkerwanderung durchtobten, auf- und niederwogend wie einst die Wellen der Adria. Dann rodeten Siedler nordischer Stämme die Hochflächen der Mittelgebirge, weideten die Herden über der Waldgrenze, in die der deutsche Einödler immer neue Breschen schlug. Zeiten kamen, in denen eisengepanzerte Raubgrafen das Tal unsicher machten, sich gegenseitig befehdeten, bis in solchem Kampfe die Grafen von Tirolo über die Eppaner obsiegten und ihr Burggrafenamt immer weiter talauf und -ab dehnten. Bunte Heereszüge deutscher Kaiser flimmerten durch's Tal hinab nach dem Maienlande und prunkende Gesandtschaften römischer Päpste durchzogen es nach Norden.

Die Maultasch' geriet in den Mund des Volkes, Friedl mit der leeren Tasch' in das Herz der Bauern, und Kaiser Maxens Jägertum blieb im Gedächtnis der Gebirgler.

Der Sturm der Glaubenskämpfe fegte auch durch dieses Tal wie noch manch anderer blutiger Völkerstreit, der gipfelte in der Heldenzeit Andrä Hofers.

Fürwahr, dieser Erdenstrich dampft von Erlebnissen.

Und ist durchflammt von der Glut des Glaubens: Hier leuchteten die Opferfeuer heidnischer Urväter von den Höhen, hier züngelten die Flammen auf römischen Altären; hier blinkten die glühenden Male der Sonnenwende hinaus in die zauberumwobene Sommer- und Johannisnacht; hier rauschten alte Götter-Eichen, bis sie ein Valentin und Korbinian voll christlichen Eifers fällten; hier qualmten Kirchen und Klöster, entzündet von Bauernscharen, denen das „gereinigte Evangelium" die Köpfe verwirrt hatte; hier glimmte mancher Holzstoß mit einem armen Hexlein darauf und hier riefen die Kreidenfeuer Anno Neun zum Kampfe für Gott und den gefährdeten Glauben, der diesem Volke tief im Herzen sitzt und mit dem sich gar zu gern der Aberglaube verschwistert, der hinwiederum seine Vaterschaft an Legende und Sage nicht verleugnen kann.

Des Volkes dumpfes, fortgeerbtes Erinnern an einstiges Geschehen bis in fernste Urväterzeit zurück verwebt sich mit den wechselvollen Empfindungen der Außenwelt und des Überirdischen, wie mit Launen und Eigenarten der umgebenden Natur zu einem Geflecht von Dichtung und Wahrheit:

An alten heidnischen Opfer- und Dingstätten treiben sich christliche Hexen und höllische Geister um; in verschütteten Bergwerken und zerfallenen Burgen liegen Schätze begraben, die zeitweise „aufblühen"; auf den hohen Bergen hausen Riesen und in den niederen Höhlen wohnen Zwerge und Nörggelen; wilde Frauen und Männer lauern in unheimlich dunklen Wäldern; unter Steinlawinen liegen freventliche Städte begraben und aus engen, finsteren Schluchten brechen Drachen und Ungeheuer hervor wie die verheerenden Wildbäche; in den seit hundert und aber hundert Jahren bekannten Wetterwinkeln brauen die heiligen Wetterherren und die unheiligen Hexen die fürchterlichen Gewitter; auf ertragreichen Feldern und Wiesen gehen flimmernd nachts die Marchrucker um, während auf lärchenumstandenen, einsamen Waldböden im Vollmondscheine die lieblichen, schleierumwallten Saligen tanzen. —

„Die überraschend sprudelnde Quelle heimischer Lagen mühte ich mich vollends zu schöpfen, wobei ich mich auf das engere Burggrafenamt oder die weitere Meraner Umgebung beschränkte.

Schier grenzenlos ist das Gebiet des Volksglaubens. Es ist darunter und in diesem Buche nicht einzig und einseitig der Glaube als religiöser Glaube im engeren Sinne zu verstehen, sondern das Glauben im Sinne von Glaube, Meinung, Aberglaube und Urväterglaube, denen gar mancherlei Brauchtum des Volkes entspringt. Es sollte hier der Burggräfler in seinem geistigen Wesen erfaßt werden, weshalb nicht alle Bräuche aufzunehmen waren."

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Hans Matscher, Terlan

Quelle: Der Burggräfler in Glaube und Sage, Hans Matscher, Bolzano 1933, S. I - V
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Oktober 2005.
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