Der Burggräfler
Hans Matscher, Der Burggräfler

Im Jahre 1863 geschah es dem biederen Meraner Bauer, von einem sagenhaften Geflecht umsponnen zu werden wie eine Fliege im Netz.

Seine Blondhaarigkeit, die hochstämmige Gestalt, sein würdiges Einherschreiten, das ernste, gesetzte Benehmen, seine stille Gelassenheit, die zuverlässige Blauäugigkeit, all' das begeisterte den Dichter Felix Dahn, den Schilderer Ludwig Steub und andere Gefolgschaft zur Ansicht: der Burggräfler sei ein Rest jener Gotenschar, die Dietrich von Bern zur Verteidigung der rätischen Klausen hereingesandt habe. Ein Fähnlein Goten habe sich, als ihre Stammesgenossen von den Kriegsstürmen hinweggefegt waren, in die stille Bucht des Burggrafenamtes zurückgezogen, um sich hier weiterhin bei Weinbau und Viehzucht in Ruhe geziemend zu vermehren. Schärfere Kritiker aber zerrissen dies Gespinst einer Geschichtsdichtung, entkleideten den Burggräfler des gotischen Nimbus und einer sagenhaften Verklärung.

Das zweifellos Gerade, Würdige, Aufrechte des Meraner Bauern ist aber nicht nur etwas Äußeres, nein, es entspricht auch seinem ganzen inneren Wesen. Gerade wie sein Gang ist auch sein Weg durch's Leben, rechtlich in Handel und Wandel. Horchen wir nur auf seine Sprüche:

„Unrecht Gut kommt nur bis auf's dritte Glied".

„Was man Gott nimmt, holt der Teufel wieder".

„Unrecht's Gütl tragt nix im Hütl".

Dies wirkt sich auch in den Sagen aus, in denen der Bösewicht (solcher entbehrt auch das gottgesegnete Burggrafenamt nicht) exemplarisch bestraft wird. Wenn z. B. die Hirten von der Zieler Alm (32) im Herbst mit dem Vieh abziehen, sprechen sie zuvor über das zurückbleibende Almgerät, namentlich über die großen Kessel den Diebssegen, damit über Winter nichts gestohlen werde. Trotzdem machte sich einmal ein schlechter Kerl über einen Käsekessel her, um ihn zu verschleppen. Aber der Dieb kam nicht mehr von der Stelle und blieb am Kessel festgebannt, bis die Almleute im Sommer wieder aufzogen. Als man dem Schelm den Kessel aus der Hand nahm, fiel er in Staub und Asche auseinander.

Als eine der ärgsten Sünden gilt das Markverrücken. In den Wiesen, Feldern und Wäldern sind Marksteine in den Boden eingelassen, um die Besitztümer gegeneinander abzugrenzen. Wehe dem, der freventlich solche „March" zu seinen Gunsten versetzt. Beim Eggeter (33), einem schönen Hofe am Marlinger Berge, läßt sich zu allen heiligen Zeiten ein großes Licht sehen. Es huscht pfeilschnell zu unterst des Gutes hin und her und ist die arme Seele eines Markverrückers, die so auf weltewige Zeiten herumzugeistern verdammt ist.

In Oberhaus (34) hörten die Badegäste nach dem Ave-Maria-Läuten oft den Hufschlag eines Pferdes und manchmal sah man sogar den Reiter mit dreieckigem Hut und einem Mantel den Töllgraben hinaufgaloppieren bis zum Langsee, in den er die Hirten hineinstürzen wollte, was ihm natürlich nie gelang. Dieser Spuk hörte erst auf, als eine Prozession mit dem hochwürdigsten Gute veranstaltet wurde. Man vermutete, es sei der Geist eines Mannes gewesen, der falsch gemessen habe.

Den Herrgott als falschen Zeugen anzurufen, erscheint dem rechtlich denkenden, gottgläubigen Burggräfler als ein derart schweres Verbrechen, daß da gleich der Teufel selber dreinfahren muß. Die Schennaner (35) trieben lange ihr Vieh auf die Alpe in Hintersee, doch nur mietweise. Die Weide war aber so schön, daß es mit der Zeit den Mietern deuchte, sie seien die Besitzer. Da kamen nun die Advokaten ins Verdienen, denn die Hinterseer wollten weder ihr gutes Recht, noch ihre saftigen Hochwiesen fahren lassen. Es kam zum Schwur und die Schennaner stellten hiezu einen Vertrauensmann, der den Meineid zu leisten bereit war. Er tat heimlich einen Suppenlöffel unter seinen Hut, Erde von seinem Heimatdorfe in die Schuhe. Also trat er zum Schwure an: „So wahr der Schöpfer ober mir ist, so wahr ich auf Schennaner Erde stehe, so wahr gehört die Alm den Schennanern!" Da brüllte es wie Donner von den Höhen über die Mahden her, der Teufel kam herangesaust wie ein wilder Stier, packte den Meineidigen mit glühenden Krallen, wirbelte mit ihm in die Luft talaus mitten durch die „Weiße Wand" ob Hintersee (das Loch sieht man heute noch), flog mit dem Opfer durch's Passeier davon und verschwand gegen Lana.

Ein andermal (36) stritten sich zwei Bauern um den Wald, an dessen Stelle sich jetzt der Raffeingraben aufgetan hat. Der rechtmäßige Besitzer sagte zum anderen: „Wenn du den Wald gewinnst, mußt du den ganzen Berg umgraben!" — „Das will ich wohl tun!" hohnlachte der andere und der Landrichter, den er auf seine Seite gebracht hatte, fügte hinzu: „Und ich will dir dabei helfen!" Diesem sprach er den Wald unrechterweise zu. Beide starben bald danach. Alsbald begann der Berg zu rutschen, bis sich eine breite, tiefe Mure bildete, die heutzutage noch weiter um sich frißt. Das Geröll ist stets in Bewegung, als ob die Steine von unsichtbaren Händen übereinander geschoben würden. Die Tschermser suchten den Berg mit geistlicher Hilfe zu bannen, bisher ohne Erfolg.

In der gottbegnadeten, fruchtgesegneten, sonnbebrüteten Gegend des Burggrafenamtes gedeiht die magere, gelbe Blume des Neides zwar auch, aber nicht besonders üppig wie sonstwo. Und Strafe für dies häßliche Laster kann nicht ausbleiben. An der Stelle der heutigen Winklermure (37) unterm Berg standen einst die prächtigsten Weinberge, in einem davon sprang eine so köstliche Quelle aus dem Boden, daß viele dahin gingen, sich zu laben, ohne aber dem Weingute Schaden anzutun. Den Winklerbauern, der ein gar giftiger Neithart war, wurmte solche Pilgerschaft immer ärger und er senkte Quecksilber in die Quelle. Dies fraß tiefer und tiefer, so daß das Brünnlein ganz und gar versank. Die Strafe ob solcher Mißgunst ließ nicht lange auf sich warten: Bald hatte das unruhige Quecksilber den Boden derart untergraben, daß ein Weinacker um den anderen herabrutschte und so die öde Mure entstand.

Auch der Geiz hält im Burggrafenamte keine große Ernte, da der Bauer selber ja meist eine gute hat, wenn auch wohlverdient im Schweiße seines Angesichts. Eher gibt's schon hie und da eine geizige Bäuerin. Eine solche lebte vor Zeiten (38) im Schlosse Vorst [Forst]. Nichts vergunnte diese Klemmerin den Armen und gab die Überbleibsel von den Mahlzeiten lieber den Schweinen. Nach ihrem Tode hörte man deshalb im Schweinestalle oft einen greulichen Lärm: Schweine grunzten, wenn auch kein einziges drin war, und die Geisterstimme der unselig Verstorbenen lockte: „Natsch! Natschl"

Als ein geiziger Maiser Bauers (39) auf dem Totenbette lag, kreiste ein pechschwarzer Hund, dem eine feurige Zunge aus dem Maule hing, bei hellichtem Tage um das Haus herum. Man holte einen Pater aus der Stadt, der erkannte, daß das wüste Tier der Teufel selber als Höllenhund sei, und bannte ihn. Der gesetzte Burggräfler ist allem öffentlichen Trubel und überschäumenden Festfreuden nicht gewogen. Er schätzt mehr ein „Spielele" mit ein paar Freunden, das Laubbieten und namentlich das Perlaggen. Dies ist ein gar verzwicktes Kartenspiel und darum freilich oft Anlaß zu hitzigen Auseinandersetzungen. Sagt man doch:

Gottes Wort und Perlaggerstreit
Dauern fort in Ewigkeit.

Bei diesem Anlasse kann sogar der stoische Meraner Bauer ins Kochen geraten, doch explodieren tut er nicht. Bei seltenen Raufhändeln ist eher der Wein der Schürer und blutige Erledigung des Streitfalles verüben nur Leute minderer Gattung und sogenannte Stadtrauber. Die hatten diesbezüglich Vorgänger in den Raubrittern, an denen wir einstmals (bei den vielen Burgen im Etschlande) just keinen Mangel zu leiden hatten. Denen saß gewohnheitsgemäß das Messer allzu locker.

Zwei solche Ritter (40) im Schlosse Vorst kartelten miteinander. Wenn es auch nicht Perlaggen war, das erst um 1800 herum das Licht tabaksqualmumdüsterter Lampen erblickte, heißblütige Leute kann auch der „Schwarze Peter" übereinander bringen. Unsere beiden Spieler besorgten dies so gründlich, daß sie sich gegenseitig erdolchten und das Blut bis an die Zimmerdecke spritzte. Die Stelle ist heute noch zur Erinnerung und heilsamen Mahnung mit zwei weißen Kreuzen gekennzeichnet. Die Ritter geben noch im Grabe keine Ruhe. Besonders zu heiligen Zeiten reitet der eine auf einem Schimmel durch die Aue und bald sprengt der andere auf einem schwarzen Gaule nach. Dann stürzen sie sich aufeinander los, daß man die Schwerter weithin klingen hört.

Nicht gerade klingen hört man es, wenn man des Abends an einem Gehöfte vorbeigeht, wo Bauer und Ehehalten (freilich immer spärlicher) den Rosenkranz beten. Das ist oft ein arges Gesurbel, Gebrumm, Gegronel und Gehaspel, ein Leiern, dem nicht viel Andacht anzumerken ist. Daraus darf man aber nicht schließen, der Burggräfler sei nur äußerlich, oberflächlich religiös. Rein, er ist's tiefinnerlich, hält die Gebote der Kirche aus Überzeugung, scheut die stundenweiten, oft beschwerlichen und gefährlichen Wege zum Gottesdienste nicht und bildet bei Prozessionen lange Ketten. Kaum in einer Gegend finden sich auf Steig, Weg, Wiese und Feld soviele Kapellen, Bildstöcke und Kreuze, seit Jahrhunderten gepflegt und immer wieder erneuert, und es ist wohl kein ärgerer Frevel zu denken als die Schändung solcher Heiligtümer. Auf einem Schennaner Wege, „'s stickte Gaßl" genannt (41), ragt ein Kruzifix. Ein französischer Offizier hieb auf der Flucht (Anno Neun) wutentbrannt mit dem Säbel auf den Leib des Gekreuzigten ein. Der Frevler mußte bald eines greulichen Todes sterben. Der Getreidehändler Christanell aus der Vöraner Gegend (42) lenkte ein Schwerfuhrwerk den steilen Weg hinan. Die müden Pferde vermochten nicht mehr den Wagen weiterzuziehen und blieben just bei einem Wegkreuze stecken. Voller Zorn schlug der Händler mit der Peitsche nach dem Christus und schrie: „Du verfluchter Hund, obgleich das Getreide immer billiger wird, willst mich doch nimmer weiter lassen?!" Sogleich ist der Vöraner umgefallen und in einen Hund verwandelt worden. Nur der Arm mit der Peitsche blieb am Wege liegen. Den Hund führte man an verschiedene heilige Orte, um die Seele des Händlers zu retten. Endlich kam man zu einem Kapuziner, der im Rufe großer Frömmigkeit stand. Er ließ den Hund vor der Kirchentüre anbinden, weil das Tier immer in die Luft gerissen wurde und sagte, bevor er die heilige Messe begann: „Wenn der Mensch noch Gnade finden kann, werde ich ihn retten, sonst aber wird der Hund zu Asche zerfallen." Nach der Messe lag statt des Tieres ein Aschenhaufen vor der Kirche. Wenn es sich um die Bestrafung des Schlechten handelt, traut der Burggräfler dem Teufel auch die Macht über eine Widumhäuserin zu. Warum der Höllenfürst zu tun (43) bekam, meldet die Sage nicht genauer. Es steht nur geschrieben: Wegen ihrer Schlechtigkeit holte er sie. Er hatte nichts zu lachen, denn die Häuserin war so schwer, daß der Teufel im Spronsertale nicht weit unterhalb des Schusterkofel-Kreuzes zwischen Longfall und dem Kögler-Albl auf einer Felsplatte rasten mußte. Sie heißt jetzt noch der Teufelsstein. Man sieht darin ganz deutlich den Schweif und die Klauen abgedrückt nebst dem Haarkamme des Weibes. Dann trug er sie weiter bis auf die Mutspitze, wo er sie zopfte. Auch hier sieht man die Haare der Häuserin in den Felsen gedrückt. Beides vereint: die Belohnung der Tugend und die Bestrafung des Bösewichts finden wir in der Sage von der Schloßherrin Jutta von Braunsberg (44) über Lana.

Es ist nie gut, wenn einer seine junge, schöne Frau längere Zeit allein läßt. Denn ist sie auch noch so tugendsam, andere sind es nicht. Und so entbrannte der Burgvogt, dessen Schutze der Ritter von Braunsberg vor seiner Kriegsfahrt die Gemahlin Jutta anvertraut hatte, in sündiger Liebe zur Herrin. Da er niemals Gehör gefunden, verklagte er sie beim Ritter, als er wieder heimgekehrt war, und zieh sie der Untreue mittelst allerhand falschen Beweisen. Der Ritter glaubte diesen mehr als den Beteuerungen seines Weibes und verdammte sie zu ewigem Kerker. Da empfahl sich die unschuldige Frau dem Schutze Gottes und stürzte sich aus dem Fenster in den schauerlichen Felsenschlund des Ultener Baches, heil blieb sie und unverletzt stieg sie zur Burg empor. Den Beweisen des Himmels, der die Unschuld schützte, mußte der Ritter glauben. Der Burgvogt, von Verzweiflung gepeinigt, sprang in die Falschauer und zerschellte am Fuße des Felsens. Eine irrlichtelierende blaue Flamme um Mitternacht bezeugt, daß der umgehende Geist des Bösewichts nimmer Ruhe finden kann. Ein altes Gemälde in der Kapelle zu Braunsberg stellt Juttas wunderbare Rettung dar „geschehen im 13ten hunderten Seculo."

Quelle: Der Burggräfler in Glaube und Sage, Hans Matscher, Bolzano 1933, S. 25ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Oktober 2005.
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