Das Burggrafenamt

Wer immer durch eines der dreiteiligen Fenster des Schlosses Tirolo hinaus in das Etschland schaut, den glitzernden Ortler sieht wie ein Denkmal der Zeit, in der dies Tal unter Eis begraben lag; wer ins Sonnengeflimmer blinzelt, das nunmehr das Land durchflutet und so segensträchtig und fruchtschwer macht; wer den Blick dem geschlängelten Bande der Etsch entlang hinuntergleiten läßt bis zu den fernblau-verdämmernden Ausläufern der Dolomiten, Zeugen der Tage, wo das, was wir heute unsere Heimat nennen, in einem Ozean versunken war ...; wer immer vom Schlosse Tirolo die Weite und die Höhen des Burggrafenamtes mit den Augen zu raffen sucht, wird sich fragen: wie ist dies alles so geworden? S o geworden, daß nicht nur der Schöpfer, nein, sogar die kritischen Menschlein sagen müssen: „Und es ist gut!" Darüber muß dies Buch die Antwort schuldig bleiben, denn nur Bücher könnten es euch sagen, ich möchte bloß in Umrißlinien hier aufzeichnen, wie das, was wir Burggrafenamt nennen, geschichtlich entstanden ist.

Vor neunhundert Jahren bekam ein Trientner Bischof von Kaiser Konrad II. die Grafschaften etschaufwärts zu Lehen. Jener gab sie an adelige Laien weiter und so entstanden unter anderm die Grafen von Vinschgau. Aus diesen scheint um 1077 einer, namens Gerung, auf wie eine schillernde Raupe; dann verpuppen sie sich im geschichtlichen Dunkel und entwickeln sich darin zu Grafen von Tirol. Wer der letzte Vinschger und der erste Tiroler war, wird man kaum mehr erfahren. 1140 machen sich die Grafen Bertold und Albert als völlig ausgewachsene Schmetterlinge deutlich bemerkbar. Mit Bertold beginnt die Geschlechtsfolge der Tiroler Grafen.

Hans Matscher, Das Burggrafenamt

Gleich diesen hatten sich auch andere Adelige aus urkundlichem Dunkel in das Licht der Geschichte gerettet. So z. B. im oberen Vinschgau die „Herren von Tarasp und Matsch", in der Bozner Gegend die Grafen von Hocheppan und Greifenstein. Deren Ahnherr Ethiko war ein natürlicher Sohn jenes Welf, der die Grafentümer an Inn und Eisack besessen und wegen Verrat verloren hatte. Ethiko vermehrte sich (anscheinend legal) weiter. Sein Enkel Friedrich benützte vor seinem Tode (1110) die Etsch zur Teilung seiner irdischen Güter: Ans linke Ufer setzte er auf Greifen- stein die Söhne Heinrich und Arnold, ans rechte auf Hocheppan Ulrich, dessen Enkel Heinrich und Friedrich als Raubritter sogar in die Weltgeschichte* eintraten. Alle die Adelsgeschlechter fühlten sich vom Drange beseelt, das Joch der Bischöfe abzuschütteln und nebstbei ihren Besitz immer kräftiger abzurunden. Dabei gerieten sie natürlich an- und übereinander; denn das Abrunden macht scharfe Kanten, daran sich der Nachbar stößt. Dazu gesellte sich der Gegensatz, der damals die ganze Christenheit in zwei feindliche Lager spaltete: hie Welfen (päpstliche Partei), hie Ghibellinen (Anhänger des deutschen Kaisers). Zu diesen gehörten die Tiroler, auf jene schworen die Eppaner. Die Herren waren auch sonst sehr verschieden in ihrem Temperamente. Man braucht nur das wehrumgürtete Geiernest Hocheppan mit seinem fünfseitigen Trutzturm zu vergleichen mit der freilich auch gut befestigten, aber breit behaglichen Anlage des Schlosses Tirolo. Heute noch scheinen dort Eisengepanzerte über die Zugbrücke zu rasseln, während man hier feingekleidete Edelleute durch die kunstgeschmückten Rittersäle wandeln sieht. In dem Geschlechte der Tiroler Grafen lag, wie in Eggers „Geschichte von Tirol" zu lesen, „als fortlaufender Charakterzug ein fester, beharrlicher Sinn ohne das Ungestüm ihrer Feinde, der Eppaner; eine nieermüdende Sorgfalt, jede gegebene Gelegenheit zur Vergrößerung der eigenen Macht zu benützen. Ähnlich dem Hause von Savoyen, mit dem es damals auf gleicher Höhe stehen mochte, suchte es die umliegenden Besitzungen Stück für Stück an sich zu bringen, und... durch kleine, aber fortwährende Erfolge sich zu stärken und groß zu machen." Es dehnte sich also der Amtsbezirk der Tiroler Burggrafen, das Burggrafenamt, immer weiter durch das Etschtal aus, bis sie auf den stacheligen Widerstand der Eppaner stießen, die ihrerseits sich etschaufwärts entwickeln wollten.

Es galt nun den Kampf um die Herrschaft im Etschlande, das bald „Blut und Flammen füllten", so daß schließlich der Bischof Hartmann sich über den Rittnerberg nach Hocheppan begab, um zu vermitteln. Er hatte sich umsonst hinbemüht: die Fehde ging weiter und verheerte das Tal. Da jedoch Beharrlichkeit zum Ziele führt und Ungestüm erlahmt, neigte sich der Sieg den Tirolern zu. Und wenn jetzt Graf Bertold durch eines der dreiteiligen Fenster des Schlosses über das Burggrafenamt hin in die Weite schaute und auf dem Unterbau des aufsteilenden Gantkofels die Burg seiner niedergerungenen Feinde sah, da mochten ihm die ragenden Porphyrwände dieses Berges nicht mehr den Abschluß einer Grafschaft bedeuten, sondern wie fernes purpurnes Schimmern der Krone eines Fürsten und Herrn über das „Land im Gebirge".

Als dies Land um das Jahr 1363 durch die Herzogin Margarete Maultasch an die Habsburger kam, schufen diese eine „Landeshauptmannschaft an der Etsch" und der Begriff „Burggrafenamt" schwand aus dem amtlichen Gebrauche. Später deckte sich dieser Begriff ungefähr mit der Ausdehnung der Meraner Bezirks-hauptmannschaft, die auch die Seitentäler Ulten, Passeier und Untervinschgau umfaßte.

Wir sahen, wie allmählich aus dem Schoße des Schlosses Tirolo das Burggrafenamt heranwuchs und seine Grenzen änderte; diese setzt man im allgemeinen mit der Schnalser Brücke im Vinschgau und mit der Nalser Brücke im Etschtale. Das engere Burggrafenamt reicht von dieser Übersetzung der Etsch bis in die Partschinser Gegend; die Naturnser tun schon ein wenig vinschgerlen.

Denn, was den Namen Burggrafenamt bis heute lebendig erhalten hat, ist außer dem zähen Festhalten des Bauern am Althergebrachten namentlich der sprachlichen Eigenheit, die sich von der der Seitentäler und des Tscheggelberges scharf unterscheidet, zu danken, dann wohl nicht minder der einheitlichen Tracht, die ihren Träger sofort als „Burggräfler" kennzeichnete und von allen anderen absonderte, und schließlich dem Stolze auf die geschichtliche Rolle und Überlieferung des Bauerntums gerade in dem Landstriche, dessen Schicksal engverknüpft war mit dem des Schlosses zu seinen Häupten.

Hans Matscher, Bauernbuben

*Sie überfielen und beraubten eine päpstliche Gesandtschaft an den deutschen Kaiser und setzten zwei Kardinäle auf Hocheppan gefangen

Quelle: Der Burggräfler in Glaube und Sage, Hans Matscher, Bolzano 1933, S. 1ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Oktober 2005.
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