Schlern

In der Sai, so heißt eine Gegend auf dem Schlern, fließt seit uralten Zeiten ein glashelles Brünnlein in ein hölzernes Trögl. Es macht an den Rändern einen rotgelben Rack, und wer den abbröckelt, hat reines Gold. Es ist aber schwer zu finden, denn drunter und drüber liegen Steine, und wohl nur alle hundert Jahre einmal ist einer so glücklich, das "Goldwasserle" zu entdecken.

Vor Zeiten fuhr ein Bauer von St. Valentin mit seinem Knecht hinauf zur Alm. Der Knecht war ein kluger Wälscher und wußte um das Brünnlein, schwieg aber davon. Wie sie droben in der Schafhütte angekommen, waren beide müde und krochen ins Heu. Der Knecht hatte keine Ruhe, denn das Goldwasser ging ihm im Kopfe um. Er wartete bis zur Nacht, und als Mähder, Schafbuben und der Bauer schliefen, schlich er sich davon und fand endlich zwischen Purstall und Petz das Wasserle mit dem Tröglein, gerade so, wie die Leute immer erzählt hatten. Da steckte er alle Taschen mit Sand und gelben Bröcklein voll. Der Bauer fand am Morgen seinen Knecht nicht, den man vergebens suchte. Seitdem war das Brünnlein mit dem Tröglein verschwunden, bis dem Rechten das Glück zufiel.

Dies lachte einem Schuster von Völs vor einigen Jahren. Er hatte sich auf dem Wege zur Schaf hütte verirrt und folgte einem schmalen Steige, bis er endlich in einer landfremden Gegend sich befand, obgleich er von Jugend an jeden Fleck auf dem Schlern kannte. Wie er verwundert sich umsah, hörte er ein kleines Wasser rieseln, ging dem Klang nach und fand ein Brünnlein mit einem Trögl. Holla, dachte er, dies ist das Goldbrünnel in Sai, und lief davon, um seinen Kameraden in der Schafhütte aufzusuchen, um ihm das Wunderbrünnel zu zeigen. Er fand ihn, und beide suchten die ganze Gegend ab, entdeckten aber weder das "Wasserle", noch das Trögl. Zu Zeiten findet auch das Vieh den Weg zum Goldbrünnlein. So graste vor vielen Jahren ein Ochs auf der Alm, der täglich in der Sai zur Tränke ging. Als er um Weihnachten geschlachtet wurde, fand man einen Goldklumpen in seinem Magen.

Im Schlern liegt eine armesdicke Goldader. Sie ging früher oben am Berg hin, ist aber längst versunken.

= Zingerle / Tirol 1891 Nr. 157 S. 95 f. (aus Völs) - Heilfurth M 3 Be 6 S. 94.
Aus: Gerhard Heilfurth, Südtiroler Sagen aus der Welt des Bergbaus, An der Etsch und im Gebirge, 25. Bändchen, Brixen 1968, Nr. 73, S. 63