Das taube Korn
Zu Stavoren in Friesland waren die Einwohner
durch ihren Reichtum stolz und übermütig geworden, daß
sie Hausflur und Türen mit Gold beschlagen ließen, den ärmeren
Städten der Nachbarschaft zum Trotz. Von diesen wurden sie daher
nicht anders genannt als »die verwöhnten Kinder von Stavoren«.
Unter ihnen war besonders eine alte geizhalsige Witwe, die trug einem
Danzigfahrer auf, das Beste, was er laden könne, für ihre Rechnung
mitzubringen. Der Schiffer wußte nichts Bessers, als er nahm einige
tausend Lasten schönes polnisch Getreid, denn zur Zeit der Abreise
hatte die Frucht gar hoch gestanden in Friesland. Unterwegs aber begegnete
ihm nichts wie Sturm und Unwetter und nötigten ihn zu Bornholm überwintern,
dergestalt, daß, wie er frühjahrs endlich daheim anlangte,
das Korn gänzlich im Preise gefallen war und die Witwe zornig die
sämtliche Ladung vor der Stadt in die See werfen ließ. Was
geschah? An derselben Stelle tat sich seit der Zeit eine mächtige
Sandbank empor, geheißen der Frauensand, darauf nichts als
taubes Korn (Wunderkorn, Dünenheim, weil es die Dünen wider
die See helmt [schützt], arundo arenaria) wuchs, und die Sandbank
lag vor dem Hafen, den sie sperrte, und der ganze Hafen ging zugrunde.
So wuchs an der Sünde der alten Frau die Buße für die
ganze Stadt auf.
Kommentar: Holländ. gemeine Sage. Grabner:
Reise in die Niederlande, Gotha 1792, s. 58 - 60. Winsheim: Fries. Chronik,
Bl. 147, 148.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 238