Das stille Volk zu Plesse
Auf dem hessischen Bergschloß Plesse sind
im Felsen mancherlei Quellen, Brunnen, Schluchten und Höhlen, wo
der Sage nach Zwerge wohnen und hausen sollen, die man das stille Volk
nennt. Sie sind schweigsam und guttätig, dienen den Menschen gern,
die ihnen gefallen. Geschieht ihnen ein Leid an, so lassen sie ihren Zorn
doch nicht am Menschen aus, sondern rächen sich am Vieh, das sie
plagen. Eigentlich hat dies unterirdische Geschlecht keine Gemeinschaft
mit den Menschen und treibt inwendig sein Wesen, da hat es Stuben und
Gemächer voll Gold und Edelgestein. Steht ihm ja etwas oben auf dem
Erdboden zu verrichten, so wird das Geschäft nicht am Tage, sondern
bei der Nacht vorgenommen. Dieses Bergvolk ist von Fleisch und Bein wie
andere Menschen, zeugt Kinder und stirbt; allein es hat die Gabe, sich
unsichtbar zu machen und durch Fels und Mauer ebenso leicht zu gehen als
wir durch die Luft. Zuweilen erscheinen sie den Menschen, führen
sie mit in die Kluft und beschenken sie, wenn sie ihnen gefallen, mit
kostbaren Sachen. Der Haupteingang ist beim tiefen Brunnen; das nah gelegene
Wirtshaus heißt zum Rauschenwasser.
Kommentar: Joh. Letzner:
Plessisches Stammbuch. Wunderbare Begebenheiten eines göttingischen
Studenten auf dem alten Schlosse Plesse, 1744, S. 15 ff.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm
(Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 30