Die Zwerge im Gübichenstein.

Mündlich in Weibeck.

Vor alten Zeiten gab es einen Berg Gübichenstein, welcher von Zwergen bewohnt wurde, und wenn Menschen hinaufstiegen, vermochten sie nicht wieder herunterzukommen, sondern mußten oben verhungern oder wurden, wenn sie eingeschlafen waren, des Nachts ins Thal geworfen, wo sie dann ganz zerschmettert ankamen. Einst gieng der einzige Sohn eines Försters mit mehreren seiner Freunde auf die Jagd; sie kamen auf dieß und das zu sprechen, unter anderem auch auf den Gübichenstein, und daß daselbst schon so mancher sein Leben habe einbüßen müßen. Der Försterssohn, der schon vielerwärts in der Welt gewesen war, glaubte nicht an diese Geschichten und hatte große Lust, auch einmal den Berg zu besteigen. Die Freunde riethen ihm ab, so viel sie nur konnten, erzählten ihm von manchen Leuten, die ihren Vorwitz hätten mit dem Leben bezahlen müßen, und setzten hinzu: "Schone du doch deines jungen Lebens, damit du deinem braven Vater, der alles an dich gewandt hat, in seinem Alter hülfreich zur Seite stehen kannst"; er aber antwortete: "Seid unbesorgt; ich kann gut klettern und komme schon wieder herab." Währenddes kamen sie an den Gübichenstein, und aller Bitten und Vorstellungen ungeachtet erstieg der junge Försterssohn den Berg mit leichter Mühe, und als er oben war, spottete er seiner Freunde: "Ihr seid ja so klein wie Vögel und wie Mäuse, und ich bin so groß, so groß!" Lange indes spottete er nicht; denn gleich nachher, als er wieder herunterwollte, fand er zu seinem und zu aller Schrecken, daß er wie festgewurzelt war und sich nicht rühren noch regen konnte. Das war ein Jammer! Dringend bat er seine Freunde: "Schießt mich herab, damit ich hier nicht verhungere oder nach langer Qual morgen früh zerschmettert unten liege!" die Freunde konnten sich dazu kein Herz faßen und riefen ihm zu: "Versuch doch alles Mögliche, um wieder loszukommen; dreh dich nach links und nach rechts und nach allen Seiten, so wird es doch gehen!" Er versuchte auch alles; aber seine Kräfte reichten nicht aus und wurden mit jedem Augenblick geringer und waren endlich ganz dahin. Als es Abend wurde, und sie einander nur noch hören, nicht aber mehr sehen konnten, bat er die Jagdgenoßen: "Begebt euch nach meinem Hause, theilt meinem armen Vater das Vorgefallene mit und saget ihm, er habe mir immer nur Liebes und Gutes erwiesen, so möge er denn kommen und mich herunterschießen, sobald der Mond aufgegangen; denn ich habe hier große Angst und viele Schmerzen!"

Als die Trauerbotschaft an den alten Förster kam, da jammerte er und seufzte und weinte nach seinem einzigen Sohne, und er betete zu Gott, er möge ihn doch nicht so allein in dieser Welt stehen laßen, sondern ihm den geliebten Sohn noch einmal wieder schenken. Weil er aber merkte, daß dieß sein Bitten und Wehklagen vergeblich war, nahm er sein Gewehr von der Wand, lud eine neue Kugel hinein und gieng in den Wald, dem Gübichensteine zu. Anfänglich schien der Mond; bald aber erhob sich ein fürchterliches Gewitter; die Blitze fuhren links und rechts in die Eichen, und der Donner brüllte ohne Unterlaß, und je näher der Förster dem Berge kam, um so schauerlicher wurde das Unwetter. Dicht beim Gübichenstein begegnete ihm ein eisgraues Männchen mit einem langen weißen Bart; als das sein Jammern und Klagen hörte, fragte es ihn um die Ursache desselben. Der alte Förster erwiderte: "Was hülfe es, wenn ich dir's sagte! Du könntest mir doch nicht helfen." Das Männchen schmunzelte und meinte, das könne man doch immer nicht wißen, und hörte nicht eher auf mit Quälen, als bis der alte Förster die Geschichte von seinem Sohne erzählte, und wie derselbe stets so gehorsam gewesen, jetzt aber seiner Lust gefolgt und auf den Gübichenstein gestiegen sei; "nun stehe ich einsam und verlaßen auf der Erde, mein einziger Trost ist jetzt auch dahin!" Das Männchen war ganz gerührt, als der alte brave Mann so jammerte, und sagte: "Sei ruhig; vielleicht kann dem Sohne doch noch geholfen werden." "Ach nein", entgegnete der Förster, "wir wißen es nur zu gut, Hülfe ist hier nicht mehr zu erwarten; von dort oben ist noch niemand lebendig zurückgekehrt! So will ich denn hin und den Sohn herunterschießen, damit er nicht verhungert oder nach langer Qual ins Thal geworfen wird!" Sofort war das graue Männchen verschwunden, und als der Förster am Gübichenstein ankam, blitzte und donnerte es noch viel heftiger als zuvor, und im Schein der Blitze sah er seinen Sohn, wie er hoch oben händeringend um Hülfe flehte. Der Vater rief ihn bei Namen, und als der Unglückliche die treue Stimme hörte, bat er um Vergebung für seinen Ungehorsam und rief: "O schieß mich herab, mein Vater! o schieß mich herab!" Der alte Förster vermochte kein Wort mehr hervorzubringen, die Besinnung vergieng ihm, er legte an, wollte abdrücken - da plötzlich wurde er von allen Seiten und überall so heftig mit Dornen gehauen und geschlagen, daß er nichts anfangen konnte, sondern unverrichteter Sache und blutig nach Hause gehen mußte. Die Nacht brachte er mit Jammern und Weinen hin, und als er am Morgen wieder hingieng, um zu sehen, was aus seinem Sohne geworden sein möge, da fand er weder oben noch unten eine Spur von ihm. Und er kehrte heim und härmte und grämte sich.

Der Sohn war aber noch einmal glücklich gerettet. Das eisgraue Männchen war nämlich der Zwergkönig gewesen, und dieser, gerührt von den Thränen des alten braven Försters, erstieg mit mehreren seiner Unterthanen den Berg, gieng zum Försterssohn, der in Todesangst dastand, und sprach: "Von Rechtswegen müßte es dir so ergehen wie allen übrigen; doch mich dauert dein armer Vater, und deshalb will ich dir für dasmal das Leben schenken, wenn du mir versprichst, den Berg nie wieder zu betreten, auch dafür zu sorgen, daß keiner hier nach Falken oder sonstigen Thieren schießt." Der Försterssohn betheuerte es, und nun gebot der Zwergkönig einem seiner Diener: "Tragt ihn unbeschädigt hinunter." Es geschah also, und der Försterssohn wunderte sich nur, wie ein so kleines Männchen, das noch nicht ein Viertel so groß war wie er, ihn mit so leichter Mühe hinunter tragen könne; und er hatte sich noch nicht ausgewundert, da waren sie schon unten. Weil es noch Nacht war, nahm ihn der Zwergkönig mit in den gläsernen Berg. Hier war alles prächtig ausgeschmückt; die wunderschönsten Teppiche bedeckten den Fußboden, die Wände waren von hellem Glas, in der Mitte des Zimmers stand ein Glastisch, und die Betten waren von Moos; alles übrige aber glänzte von Gold und Silber. Der Zwergkönig unterhielt sich lange mit dem Försterssohn, bat ihn nochmals, er möge doch dafür sorgen, daß keiner auf seinen Berg oder in der Nähe desselben schieße; "denn", sagte er, "wenn man viel danach oder hier in der Gegend schießt, so bröckelt immer etwas von dem Berge ab, und wenn der Berg nicht mehr ist, so ist auch mein Königreich nicht mehr; auch können wir den Knall der Gewehre nicht aushalten. Darum bin ich so strenge damit." Jetzt klopfte der Zwergkönig mit einem feinen Glasglöckchen an den Tisch, da kamen ganz kleine Zwerge, welche die Köche vorstellten, mit weißen Schürzen und trugen die wohlschmeckendsten Speisen auf den Tisch, und Wein und allerlei Getränke, und als sie gegeßen und getrunken hatten, brachte ihn der Zwergkönig zu Bett. Hier schlief er ruhig bis an den Morgen; dann weckte jener ihn, gab ihm viel Gold- und Silbersachen und sprach: "Thue den Armen Gutes und halte dein Versprechen."

Als der Försterssohn nach Hause kam, fand er seinen Vater in tiefster Betrübnis; aber ungemein groß war die Freude, als er den lieben Sohn gesund vor sich erblickte, und auch die Freunde jauchzten und sangen. Der Sohn erzählte nun, wie er wieder vom Berge gekommen sei, und was er habe versprechen müßen; und er hielt Wort, und sein Vater und die Freunde waren dem Zwergkönig auch gefällig; ebenso wurde die Försterei von jetzt an noch mehr als vorher ein großer Segen für die Armen. Und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt mit einander, der Vater, der Sohn und die Freunde, und der alte Förster hatte an dem jungen den besten Trost und die beste Stütze, und als bald hernach eine junge Försterin ins Haus kam, da hatte er eitel Freude und Wonne bis an seinen Tod.

Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 23, S. 73 - 77.