DIE SCHÖNE FRAU BEI ST. ANNA

Bei St. Anna in der Nähe von Ering am Inn, kam allabendlich eine schöne Frau in herrlichem, glitzerndem Kleide zu einem Hirtenknaben auf die Waldwiese und erzählte ihm viele hübsche Geschichten. Eines Abends war sie sehr traurig und der Knabe fragte sie, was ihr fehle. Sie schüttelte den Kopf und heiße Tränen blinkten ihr in den Augen; dann sprach sie: "Knabe, fürchtest Du Dich?" Lachend entgegnete dieser: "nein, und wenn der Teufel selber kommt!" "Ich will es sehen", fuhr sie fort, "es soll Dein Glück sein. Du sollst Geld in Hülle und Fülle erhalten, wenn Du Dich morgen nicht fürchtest!" Des andern Tages saß der Knabe wieder am Waldrand und lehnte seinen Lockenkopf in die Zweige eines Tannenbäumchens. Die Sonne ging unter und warf ihre letzten Strahlen auf Wald und Wiese. Da - was raschelt im Laub? Eine greuliche Schlange windet sich über das Moos hin, im Maule ein goldenes Schlüsselchen tragend. Erschrocken springt der Junge auf und läuft schreiend davon. Am andern Tage kam die Frau wieder, setzte sich zu dem Jungen ins Gras und klagte: "o Du furchtsamer Junge, Du hättest mich gestern erlösen können; so aber muß ich wieder warten, bis dieses Tannenbäumlein hier zur mächtigen Tanne erwachsen und zu Brettern geschnitten sein wird, aus denen eine Wiege gefertigt werden wird. Jenes Kindlein, das zuerst in dieser Wiege liegen wird, kann mich erlösen." Darauf verschwand sie.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen