DER HOHE STEIN

Wenn man von Kopfberg nach Zipf geht, so führt der Weg durch ein wildromantisches Tal, in dem zahllose Felstrümmer zerstreut umherliegen. Unter diesem Gestein zeichnet sich besonders ein Block durch seine riesige Höhe aus. Das Volk nennt ihn einfach den hohen Stein und erzählt von ihm folgende Sage:

In uralter Zeit stand dahier ein Schloß, das von einer reichen Gräfin, deren Gemahl in einer Schlacht den Tod gefunden hatte und ihrer Schwester bewohnt war. Die beiden Frauen waren geizig und hartherzig gegen alle Notleidenden. In einer wilden, stürmischen Nacht klopfte ein Bettler an das Schloßportal und bat um Nachtherberge; aber die Frauen wiesen ihn fort. Da erhob der Bettler drohend seine Rechte und rief:

»Der Himmel verderbe euch mit seinem Zorne und keine Ruhe sollt ihr finden bis an das Ende der Tage!« In diesem Augenblick erhob sich ein gräßlicher Sturmwind und ein ungeheurer Felsen löste sich oben vom Berge und begrub das Schloß samt seinen Bewohnern.

Seit diesem Tage sieht der einsame Wanderer in stürmischen Nächten die zwei Frauen auf dem Felsen sitzen. Wenn ihre Zeit dereinst abgelaufen sein wird, dann wird ein Mann aus dem Volke sie erlösen. Eine Truhe voll Gold, die unter den Felstrümmern vergraben liegt, wird sein Lohn sein.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen