Die Wunderblume

Ein Mann aus dem Dorfe Mömbris-Hohl war drunten in Hanau auf dem Kirschenmarkt gewesen und befand sich nun wieder auf dem Wege nach Hause. Als er am Rammershügel vorbei schritt, wusste er plötzlich nicht mehr, wo's weiterging, obwohl er den Weg wie seinen eigenen Rocksäckel kannte, da er ihn doch schon hundertmal gegangen war. Es war auch noch hell am Tag; der Mann blickte verwundert nach allen Seiten und griff sich an die Stirne, weil er glaubte, er träume. Da umgab ihn ein seltsames Licht, und zu seinen Füßen stand eine Blume, so schön, wie er im Leben noch keine gesehen hatte, und ihr feiner Duft stieg ihm in die Nase, dass er nicht anders konnte, er musste sich niederbeugen und die Blume pflücken. Kaum aber hielt er sie in der Hand, da tat's einen heftigen Schlag, der Berg erbebte, und es öffnete sich ein großes Tor, durch welches unser Mann in ein weites Gewölbe trat, in dem die herrlichsten Schätze blinkten. Der Mann ist ganz geblendet von der Pracht, und er weiß nicht, was ihm schöner dünkt, das glänzende Gold oder das blitzende Edelgestein. Er tastet und greift in seinem Staunen nach diesem und jenem und lässt dabei die Blume auf den Schätzen liegen. Jetzt hört er aus der Tiefe des Gewölbes eine Stimme rufen: "Vergaß das Beste nicht!" Er denkt: "Was mag wohl das Beste sein?" und sucht herum und wählt, derweil die Stimme nicht aufhört zu rufen: "Nimm doch das Beste, nur das Beste!" Wie der Mann zwei prachtvolle Leuchter sieht, an denen Perlen und Edelsteine funkeln, meint er: die sind am schönsten, nimmt sie in seine Hände und geht dem Ausgange zu, ohne an die Blume zu denken, die dort auf den Schätzen liegt. "Vergiss doch das Beste nicht!" ruft jene
Stimme aus der Tiefe noch lauter und eindringlicher, "das Beste!" Aber der Mann ist schon auf der Schwelle der Eingangspforte, jetzt schreitet er darüber, und nun tut's wieder einen furchtbaren Schlag, dass die Erde zittert, und das Prachtgewölbe versinkt mit all den Kostbarkeiten, während die Stimme klagt: "Wehe, du hast die Blume vergessen. Sie war der Schlüssel zu meiner Erlösung und zu den vielen Schätzen. Wehe! die Blume blüht jetzt erst wieder in hundert Jahren."

Dem Mann fuhr der Schrecken so in die Glieder, dass er eine Weile wie betäubt stand, und dann guckte er seine leeren Hände an - denn auch die Leuchter waren verschwunden - und er wanderte bedrückt heim ins Dorf.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 77ff