Die verwünschte Frau vom Schloß Wildenstein

Als die Grafen von Rieneck ausgestorben waren und der Amtmann ins Dorf Eschau herabzog, war das Schloss nur noch vom Schäfer bewohnt. Der hatte ein Stück Ackerfeld für sich und einen Weideplatz für seine Schafherde.

Einmal nun stand der Schafpferch auf dem so genannten kleinen Höhacker, an den oben und unten das Gebüsch des Waldes anstieß. Es war Nacht, und der Schafknecht lag in seiner Pferchhütte und schlief. Da wurde plötzlich seine Hütte erschüttert, so dass er erwachte und hinaussah. Zu seinem Schrecken erblickte er eine weiße Frau. Die hatte einen schwarzen Schleier um den Kopf und winkte ihm. Der Schäfer aber hatte eine solche Angst, dass er die Augen zudrückte und tiefer in seine Hütte kroch. Morgens erzählte er die nächtliche Erscheinung seinem Herrn. Der sprach ihm Mut zu. "Wenn die Frau wieder kommt", sagte er, "dann rufst du sie an mit den Worten: Alle guten Geister loben den Herrn. Was ist dein Begehr?"

Die andere Nacht kam die Erscheinung wieder, und der Knecht tat, wie ihm sein Herr angeraten hatte. Da sprach die Gestalt: "Ich bin die verwünschte Frau vom Schloss Wildenstein, und du kannst mich erlösen. Sei morgen in der Nacht zwischen elf und zwölf Uhr an der Schlossbrücke, da komme ich, aber nicht so wie jetzt, sondern als eine Schlange, und ich werde mich an dir hinauf winden und dir die Schlüssel geben. Du darfst dich aber nicht fürchten, ich tu' dir nichts und kann dir nichts tun." Der Schafknecht willigte ein und sagte: "Ja, ich werde kommen!"

Was soll ich mich fürchten? dachte er. Moses fürchtete sich ja auch nicht vor der Schlange, die aus dem Hirtenstab wurde. Er fasste guten Mut und war im Innern stolz darüber, dass gerade er berufen sei, die verwünschte Frau zu erlösen. Und er fand sich zur bestimmten Zeit an der Schlossbrücke ein. Auf einmal erhob sich ein fürchterliches Krachen im Schloss, dass man glauben konnte, der ganze Bau stürze in sich zusammen, und es rauschte und rollte um ihn her wie Gewitterdonner. Siehe nun! Da kommt im Scheine des Mondes eine große eisgraue Schlange gekrochen, die hatte ein Gebund Schlüssel im Maul, und sie fuhr auf den Schäfer los, um sich an ihm empor zu winden. Den aber befiel ein solcher Schrecken, dass er laut aufschrie und davonlief.

Im selben Augenblick aber wurde die Schlange wieder zu einer Frau, jammerte herzzerreißend und rief: "Wehe! Jetzt dauert's wieder hundert Jahre, bis ich erlöst werden kann. Denn es wird ein Kirschbaum wachsen drüben im Wald, und von ihm werden Bretter geschnitten, und aus den Brettern wird eine Wiege gemacht werden. Erst jenes Kind, das zuerst in dieser Wiege liegt, kann mich erlösen!"

Am folgenden Tag nahm der Schafknecht seine Schäferschippe und seinen Hund und wanderte weiter. Er hätte das Weinen und Jammern der Frau nicht noch einmal hören können.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 114f