Die Glocke zu Lohr

Einst hatte sich ein Graf von Rieneck im Spessart verirrt. Er lief kreuz und quer durch Gestrüpp und Dickicht, kam jedoch nirgends hin, wo er einen Weg aus dem Walde gefunden hätte. Und er rief so und so oft vergeblich nach Hilfe; es hörte ihn kein Mensch. Dabei war die Nacht gekommen, der Waldkauz schrie, die Baumwipfel begannen unheimlich zu rauschen, und es wurde so finster, dass man die Hand nicht vor den Augen sah. Der Graf ließ sich an einem Baumstamme nieder, um den Morgen abzuwarten. Er konnte vor Erregung kein Auge schließen die lange, lange Nacht. Endlich graute der Tag, und der Rienecker wusste immer noch nicht, wo er sich befand. Da, hörte er recht? Von weitem ertönte Glockenklang; der hallte allerdings nur schwach heran, aber der Verirrte achtete genau, von welcher Richtung er kam, ging dem Schall der Glocke entgegen und gelangte so glücklich aus dem Gewirr des Waldes heraus auf einen Weg, der nach Lohr führte. Es war eine Lohrer Glocke, die durch ihr Läuten den Grafen von Rieneck aus der Irre geleitet hatte. Der Graf bat hierauf den Kurfürsten Konrad von Mainz, eine Verordnung zu erlassen, es möge auch in der Nacht durch das Läuten mit der Glocke ein Zeichen gegeben werden, damit die Reisenden wüssten, daß sie nicht allzu weit von einem Orte wären.

Und so geschah es bis in die letzte Zeit. Die Lohrer Rathausglocke wurde jeden Abend um acht Uhr eine Viertelstunde lang geläutet. Sie ist eine der ältesten Glocken der Stadt und wurde 1453 von Kunrad Nürnberger gegossen.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 175