Der Lengfurter

Ein Graf von Wertheim musste wider mächtige Feinde streiten, und seine Leute hielten sich lange tapfer gegen die feindliche Übermacht, bis sie endlich unterlagen und flohen. Der Graf selbst aber kämpfte immer noch und wollte nicht vom Platze weichen. Dadurch geriet er in Gefahr, umzingelt und gefangen genommen zu werden. Todesmutig bahnte er sich einen Weg durch den feindlichen Ring und sauste auf seinem flinken Rosse davon gegen Lengfurt zu.

Die Feinde jagten ihm nach. Er aber konnte unbehelligt den Ort erreichen und wollte rasch hinein. Da war, wie zumeist in unsicheren Zeiten, das Tor verschlossen, und kein Wächter rührte sich, um zu öffnen. Graf Michael durfte nicht eine Minute Zeit verlieren; denn die Verfolger waren bedenklich näher gekommen. Was tun?- Kurz besonnen trieb er sein Ross an, und "Brav, Schimmel, brav!" flüsterte er diesem ins Ohr, und dann setzte er mit kühnem Schwünge über die Mauer hinweg.

So war er im Städtlein. Dort traf er einen Lengfurter Bürger, den rief er an: "Schnell, zeige mir eine sichere Unterkunft, mag sein, was es wolle. Die Feinde sind hinter mir her!" Der Bürgersmann überlegte flugs, wo er den Grafen verbergen solle, und führte ihn zum Schweinestalle; denn hier, dachte er, wird der Feind einen Grafen kaum vermuten.

Der Graf blieb also im Versteck, während der Bürger dem Tore zulief. Es war die höchste Zeit; schon schwärmte die Menge der Feinde herein. "Hast du einen einzelnen Reiter durchs Städtchen kommen sehen oder ritt einer daran vorbei?" herrschten sie den Lengfurter an, "he, schnell Antwort!" Der Mann erwiderte, er habe freilich einen gesehen; der habe Wertheimer Farbe getragen, sei zum Maine hinuntergetrabt, über den Fluss geschwommen und drüben davongeeilt. "Du Tölpel!" schimpften die Kriegsknechte zornig, "warum hast du ihn nicht aufgehalten?" Und sie prügelten und walkten den Lengfurter Bürger gehörig durch, weil ihnen der Flüchtling entwischt war. Jener nahm die Schläge hin und freute sich, dass die List gelungen und sein Herr gerettet war.

Die Verfolger suchten jetzt nicht weiter nach dem Entflohenen, sondern taten sich gütlich mit Essen und Trinken, luden reiche Beute auf und verließen am nächsten Tage wieder die Stadt. Und der brave Bürger? Dieser eilte sogleich zum Schweinestalle und riss die Tür auf. "Die Feinde sind fort!" Da umarmte der Graf seinen Retter, und die Bewohner von Lengfurt kamen in Scharen herbei und freuten sich über die Rettung ihres Herrn. Es wurde ein fröhliches Fest gefeiert, an dem sich der ganze Ort beteiligte. Das Fest dauerte drei Tage, und Graf Michael bezahlte alle Kosten.

Außerdem bestimmte er, dass das Haus seines Retters für die Zukunft von jeder Steuer befreit bliebe.

Noch viele Jahre bezeichnete ein Denkstein die Stelle, wo der Wertheimer Graf Michael den Sprung über die Lengfurter Mauer gewagt hatte.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 150ff