Kaiser Karls Gericht
Karl der Große hatte sich über seine Gemahlin erzürnt,
hatte sie verstoßen, und die Tochter Gertrud war ihrer Mutter freiwillig
in die Verbannung gefolgt. Sie lebten auf der Burg Neustadt am Main einsam
und ohne Freude; die kaiserliche Gemahlin vermochte sich nicht zu trösten,
da sie ohne Schuld und nur durch böswilliges Gerede dem Kaiser entfremdet
worden war. Schon mehrmals suchte Gertrud die Eltern wieder zu versöhnen,
doch vergeblich. Karl verweigerte jede Zusammenkunft mit seiner Gemahlin.
Nun ward der Tochter kund, dass der kaiserliche Vater nach Karlstadt gekommen
wäre, um den neuen Schlossbau, die Karlsburg, zu besichtigen, die
gegenüber der Stadt errichtet wurde. Der Kaiser wolle hierauf, so
berichtete man, am nächsten Tage nach seinem Schlosse, nach Homburg,
weiter reiten. Diese günstige Gelegenheit gedachte die Tochter für
eine Begegnung der Eltern zu nützen. Ihr Entschluss stand fest. Sie
begab sich mit der Mutter an den Weg, den der Vater von Karlstadt nach
Homburg nehmen musste, und dort warteten sie hinter einer großen
Eiche, bis der Kaiser vorüber käme. Es dauerte nicht lange,
da hörten sie Rosse und die Stimme von Männern. Der Kaiser kommt!
Jetzt ist er an der Eiche angelangt und will nichts ahnend vorbeireiten.
Allein da stürzen die beiden Frauen hervor und werfen sich mitten
im Wege auf die Knie nieder. Voll Unwillen erkennt der Fürst die
verstoßene Gemahlin und möchte sein Pferd auf die Seite lenken.
Doch Gertrud erhebt sich rasch und fällt dem Ross in die Zügel.
Und sie sagt dem Kaiser, dass die Mutter unschuldig sei, ganz ohne Grund
fern dem Hofe leben müsse und darunter schwer leide. Er sei doch
ein gerechter Fürst, sprach sie weiter mit mutiger Beredsamkeit,
und schütze und verlange das Recht in seinen Landen, aber der eigenen
Gemahlin lasse er keine Gerechtigkeit widerfahren. Was tat auf solch offenes
Wort der große Kaiser Karl? Er blickte seine Tochter mit ernster
Güte an und sprach: "Fürwahr, du weißt trefflich
zu verteidigen, meine Tochter, so möge ein Gericht entscheiden!"
Und er bestimmte, dass es in wenigen Wochen unter der Eiche
abgehalten werden solle.
Der Gerichtstag rückte heran. Die adeligen Schöffen hatten sich unter der Eiche versammelt. Auch der Kaiser war anwesend und brachte seine Klage gegen die Kaiserin vor. Diese stand schweigend vor den Schranken des Gerichtes. Die Tochter begann die Mutter zu verteidigen, und die Liebe zu den Eltern gab ihr die rechten Worte in den Mund. Gertrud sprach mit einer Klarheit und überzeugenden Kraft, dass des Kaisers Antlitz immer milder wurde und die Richter den Spruch fällten: "Die Kaiserin ist frei von jeglicher Schuld."
Der Kaiser freute sich über die Unschuld seiner Gemahlin, nahm diese wieder zu sich und führte sie in Ehren mit nach der neu erbauten Karlsburg.
Er ordnete an, dass auf dem Platz unter der Eiche künftig das Gericht des Landes stattfinden solle.
Bis in die neuere Zeit war jener Platz durch Steine gekennzeichnet. Und
nicht nur im Volksmund, sondern auch im Flurbuche hieß er "Kaiser
Karls Gericht".
Quelle: Spessart-Sagen,
Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 149f