Der Hirtenjörg

Zu Elsenfeld lebte ein Schäfer, der "Hirtenjörg", und seine Frau, die Ev. Sie galten im ganzen Umkreis als rechtschaffene Leute. Wenn der Mann auf dem Dammsfeld die Schafe hütete, blies er dabei religiöse und andere Lieder, so ergreifend und schön, dass den Vorübergehenden das Herz bewegt wurde.

Nun geschahen aber in der Gegend damals viele Räubereien und Morde, und sosehr man nach den Tätern forschte, man konnte und konnte sie nicht entdecken, nicht einmal die Spur von ihnen. Die Leute wurden auf der Straße überfallen und erschlagen, und besonders am Dammsfeld häuften sich die Verbrechen dermaßen, dass sich abends kein Mensch mehr durchs Tal wagte. Denn nicht nur ein einzelner Fußgänger wurde niedergeschlagen und ausgeraubt, sondern auch zwei und mehrere, die zusammen des Weges gingen. Morgens sah man sie tot im Walde liegen. So musste man annehmen, dass eine ganze Bande ihr Unwesen triebe. Wer dachte an den Hirtenjörg und seine Frau, die nach außen so fromm und ehrbar schienen!

Keine Seele hätte auch nur im entferntesten an sie gedacht, und doch waren sie die Täter. Warum wurden sie eigentlich niemals ertappt? Das kam so. Sie gebrauchten bei ihren Verbrechen die Schwarze Kunst. Wenn ihnen ein Kind geboren wurde, schnitten sie diesem den kleinen Finger ab und dörrten ihn, und wenn sie einen Einbruch oder einen Mord verüben wollten, brannten sie den Finger an wie eine Kerze, und solange der Finger brannte, waren sie unsichtbar.

Da konnten die Leute, wenn sie unterhalb Schippachs durch den Tannenwald gingen, nichts wahrnehmen als ein Licht neben dem Wege. Sobald sie aber hinkamen und an nichts Böses dachten, schlug ihnen der Hirte mit dem Holzbeil auf den Kopf, ohne dass sie wussten, woher der Schlag kam.

Nun zogen einmal, noch ehe der Hirtenjörg verheiratet und ein Mörder geworden war, drei Burschen aus Elsenfeld im Frühjahr, auf den zweiten Ostertag, in die Fremde. Der eine war ein Schneider, der andere ein Schmied, und der dritte, namens Kaspar, war der einzige Sohn aus der Mühle und hatte Müller gelernt. In Rück kehrten sie noch einmal im Wirtshaus zur Krone ein, um Abschied zu trinken, weil sie immer so gute Kameraden gewesen waren. Da machten sie dann miteinander aus, sie wollten sieben Jahre in der Fremde bleiben. Wenn sie aber nach dieser Zeit noch am Leben wären, so wollten sie sich auf den zweiten Ostertag wieder hier treffen und miteinander heimkehren, wie sie Elsenfeld auch zusammen verlassen hatten.

Alsdann marschierten sie das Elsavatal hinauf, am Kloster Himmelthal vorüber, und bei der Aubrikke trennten sie sich. Zwei gingen rechts und der dritte links. Und sie hatten Glück. Sie kamen zu tüchtigen Meistern in Arbeit und ersparten sich ein schönes Stück Geld. Sieben Jahre vergingen, die drei machten sich auf den Weg in die Heimat und kamen wieder am Ostermontag in der Rücker "Krone" zusammen, wie sie es verabredet hatten.

Der Müller war zuerst da, dann stellte sich der Schmied ein und hernach der Schneider. Sie hatten eine große Freude, als sie einander gesund wiedersahen, erzählten von ihren Erlebnissen und tranken auf baldige Meisterschaft, bis es endlich zu dunkeln anfing. Dann brachen sie auf und wollten heimwärts. In den letzten Tagen aber war Tauwetter eingetreten, die Elsava war über ihre Ufer gestiegen und hatte das ganze Tal unter Wasser gesetzt, und es brauste, wie wenn der Rhein durchs Tal ströme. Als nun die drei in die Nähe der Kreuzmühle kamen, dorthin, wo der große Nussbaum stand, hörten sie den Schäfer blasen: "Nun sich der Tag geendet hat", und sie sagten: "Das ist der Hirtenjörg, jetzt werden wir bald daheim sein." Auf einmal hörte das Blasen auf, und es wurde ein Licht angesteckt. Sie sahen das Licht, aber niemand, der es trug, sondern das Licht fackelte vor ihnen kerzengerade in der Luft herum.

Der Hirtenjörg hatte die Wanderer kommen hören, hatte sich hinter den Nussbaum versteckt und auf sie gelauert. Der wilde Bach aber trieb seine Fluten bis unter den Baum, und da stutzten die drei Kameraden und überlegten, ob sie weiter vorwärts oder wieder zurück sollten. Plötzlich rief eine Stimme: "Legt die Felleisen ab, dann will ich jedem seinen Treff geben!" und zugleich versetzte er dem Schneider, der voranging, einen Schlag auf den Kopf, dass er taumelte. Da wussten die drei nicht, wie ihnen geschah, und sie baten, er möge die Felleisen nehmen, nur solle er ihnen das Leben lassen. Da sagte der Hirtenjörg: "Meinetwegen, wenn ich's auch nicht gerne tue, aber euer Bündel legt ihr hierher und all eure Kleider darauf, und wenn ihr euch ausgezogen habt, steigt auf den Nussbaum und muckst euch nicht - sonst ist's um euch geschehen." So stiegen sie auf den Nussbaum, und als sie droben waren, wollte der Schäfer mit den Felleisen und Kleidern davongehen. Dabei fiel ihm jedoch der Finger herunter, den er angesteckt hatte, und das Licht erlosch.

Und weil der Mond gerade hinter einer Wolke hervorkam, erkannten ihn die drei und schrien: "Hirtenjörg, Hirtenjörg!" Da warf er die Felleisen und Kleider wieder hin, nahm seine Doppelflinte von der Schulter, trat unter den Baum und sagte: "So, jetzt hat euer letztes Stündlein geschlagen." Wie sie das hörten, fingen sie aufs neue an, ihn um ihr Leben zu bitten, versprachen auch, ihn niemals zu verraten, und er sollte
doch an den großen Jammer denken, den er anrichten würde, wenn er sie umbrächte. Der Hirtenjörg aber lachte und meinte, wem denn so großes Leid geschehe?

Da sagte der Schneider: "Mein Meister hat mich immer lieb gehabt; denn es hat ihm keiner so zur Zufriedenheit gearbeitet wie ich. Ich hab' ihm geschrieben, dass ich komme und wieder zu ihm will, und heute wartet er auf mich und wird sich keinen Rat wissen, wenn ich nicht eintreffe." - "'s ist nicht wahr", sagte der Schäfer, "heute morgen erst hat er einen neuen Gesellen eingestellt" und schoß ihn vom Baum. Der Schneider aber war nicht gleich tot, sondern fiel mit einem Schrei herab ins Wasser und plätscherte und gurgelte drinnen herum und "schlägelte" mit Händen und Füßen, dass der Schäfer laut auflachte. Dann wurde er das Tal hinabgeschwemmt.

Der Schmied sagte: "Das Evchen und ich kennen uns seit zehn Jahren, und jetzt wollen wir Hochzeit halten. Sieh, in meinem Felleisen steckt das Kränzchen, das soll sie an ihrem Hochzeitstag tragen. Heute wartet sie auf mich und hat keine frohe Stunde mehr, wenn ich nicht heimkomme." - "'s ist nicht wahr", lachte der Schäfer, "das Evchen denkt nicht mehr an dich - es ist schon seit sechs Jahren meine Frau; schau hinüber, dort steht sie bei den Schafen." Und damit drückte er los. Der Schmied fiel tot vom Baum und trieb auch das Tal hinunter.

Der Kaspar sagte: "Hirtenjörg, Hirtenjörg! Wir sind zusammen aufgewachsen und haben als Kinder alle Tag miteinander gespielt. Weißt du noch, wie wir uns ein Wasserrädchen schnitzten und es in unseren Mühlbach stellten? Da hast gar nicht genug hinsehen können, als sich das Rad so lustig im Kreise drehte. Hirtenjörg, wenn du mich auch umbringst, sollst du dein Leben lang keine ruhige Stunde mehr haben. Und bedenke, meine Mutter hat seit sieben Jahren jeden Morgen und Abend gebetet, dass ich noch einmal heimkomme und ihr die Augen zudrücke, heute ist sie fünfundsiebzig Jahre alt geworden und wartet auf mich." - "'s ist nicht wahr", sagte der Schäfer, "deine Mutter ist alt und schwachsinnig geworden die letzten Jahre her und weiß gar nicht mehr, daß sie einen Sohn hat, und liegt schon lange in ihrem Bette." Dann schoss er auch den Müller vom Baum. Er hatte ihn aber nicht recht getroffen, und als er fortgeflößt wurde, schrie er immer noch: "Hirtenjörg, Hirtenjörg!" Dieser aber meinte, er könne sich am Ende noch ans Land herausarbeiten und schlich ans Wasser hinunter, um ihm den Garaus zu machen. So kam er auch an die Mühle, und weil darinnen noch Licht war, schaute er durchs Fenster. - Da saß wirklich des Kaspars Mutter, die alte Müllersfrau, noch in ihrem Sessel und betete. Der Tisch war mit weißem Linnen gedeckt, und es standen zwei Teller darauf und eine Flasche Wein mit Gläsern. Da schrie's noch einmal weit unten vom Wasser her: "Hirtenjörg, Hirtenjörg!", daß die alte Frau den Kopf hob und horchte; den Schäfer aber schüttelte es am ganzen Leib - denn gerade jetzt musste der Kaspar in den Main getrieben sein.

Was aber dieser gesagt hatte, traf ein. Der Schäfer hatte keine ruhige Stunde mehr. Wo er ging und stand, hörte er das Wasser rauschen und zwischendrein rufen: "HirtenJörg, Hirtenjörg!" Bald riefen's die drei Wandergesellen miteinander, bald der Kaspar allein, wie er gerade untergehen wollte, und bald die alte Frau, und weil er das nicht mehr länger aushalten konnte, stellte er sich dem Gericht und seine Frau auch, und sie bekannten alles, was sie getan hatten. Sie wurden dazu verurteilt, dass sie auf dem Dammsfelde lebendig von vier Pferden zerrissen werden sollten.

Das Weib starb reumütig. Der Schäfer blieb bis zuletzt verstockt und ohne Reue. Als er schon auf dem Richtplatz stand, fing er an zu lachen, und als man ihn fragte, warum?, da sagte er, drüben sähe er den Nussbaum stehen, von dem er die drei Handwerksburschen herab geschossen hätte, und da falle ihm gerade ein, wie der Schneider im Wasser plätscherte und gurgelte. Das sei so lustig anzusehen gewesen, dass er jetzt noch darüber lachen müsse.

Als die Hinrichtung vom Hirtenjörg und seiner Frau vollzogen war, wurden ihre Leichen verbrannt, und die Asche wurde in den Main gestreut.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 90ff