Die Glücksrute

Hanskurt aus Edelbach im oberen Kahlgrund hatte von seinem Vetter eine Summe Geld geliehen, und wie er sie zurückzahlen sollte, leugnete er die Schuld. Dem Vetter blieb nichts anderes übrig, als Klage zu stellen, und der Richter verurteilte Hanskurt, das Geld samt den Zinsen zu entrichten. Da war dieser so verärgert, dass er seinen Vetter zu hassen begann, ihm Rache schwur und nach Mitteln sann, wie er jene ausüben könne.

Eines Tages hockte Hanskurt wieder im Wirtshaus hinter einem Humpen Wein. Da sagte ihm ein Zechbruder, dem er in der Trunkenheit seine Rachsucht bekannte, er solle doch in der Christnacht in den Wald gehen und Glock zwölf eine Eichenrute schneiden; mit der könne er jeden, wen er wolle, windelweich schlagen, und sei der andere auch noch so fern. Freilich müsse man auf dem Hin- und Rückweg "unberufen" bleiben und dürfe von niemand angeredet werden; sonst werde der Zauber unwirksam oder bringe dem Besitzer der Rute selbst Unglück.

Hanskurt nimmt die Worte des Zechgenossen gierig auf und, wie die Weihnacht kommt, stapft er zu später Nachtstunde in den Wald hinaus. Bevor er in den Forst tritt, begegnet ihm ein Jägersmann mit einer Auerhahnfeder am Hute und grüßt freundlich: "Guten Abend, Hanskurt, wo hinaus so spät?" Es ist eine mondhelle Nacht, und Hanskurt kann den Jäger deutlich sehen, aber er kennt ihn nicht und wundert sich und ist erschreckt, weil ihn jener mit Namen anredet. In seiner Verwirrung murmelt Hanskurt etwas von einer unaufschiebbaren Reise und setzt hernach den Weg fort, tiefer in den Wald hinein. Nun ist er am Ziel. Die Glocken drüben in Ernstkirchen läuten gerade zur Mette. Punkt zwölf Uhr! Der Bursche macht sich ans Werk. Die Schweißtropfen rinnen ihm von der Stirne, bis er in der Aufregung, unter Hersagen eines Zauberspruches, den Eichstock geschnitten hat. Jetzt hält er ihn in den Händen. Eilig fort, nach Hause! Seinem Vetter wird er bald die verlangte Summe zahlen, jawohl, aber mit Stockhieben, haha!

Hanskurt befindet sich jedoch noch keine zwanzig Schritte aus dem Walde, da folgt er einem inneren Zwange und dreht sich um. Und er erblickt den Jäger wieder, der ihn auf dem Hinwege angesprochen hatte, aber diesmal macht er kein freundliches Gesicht, sondern ein gar grimmiges. Er scheint unnatürlich, ins Riesenhafte gewachsen zu sein und spricht diesmal kein Wörtchen. Er nimmt den vor Angst erstarrten Hanskurt beim Kragen, fährt mit ihm hoch in die Lüfte und wirft ihn hernach mit solcher Gewalt zur Erde, daß von Hanskurt kein Knochen heil bleibt.

Als man ihn am nächsten Morgen auffand, konnte er bloß noch bekennen, was ihm in der Nacht widerfahren war. Dann verschied er. Der Eichenstock lag zerfetzt in der Nähe des Toten.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 75f