Am Brunnen in der Weihnacht

Zu Kirchzell war ein krankes Kind, dem konnte niemand helfen, und die Eltern hatten schon dieses und jenes Mittel versucht, aber sie nutzten alle nichts. Die Krankheit wurde immer schlimmer, und auf den Weihnachtsabend lag das Kind am Sterben.

Nun hatte die Mutter vernommen, dass in der Christnacht die Quellen heilkräftiges Wasser gäben. Und was tut die Mutter in ihrer Sorge? Sie eilt in dunkler Nacht zum Dorfe hinaus, läuft zur Quelle, guckt nicht links und rechts und beugt sich zum Brunnen hinab. Eben hallen zwölf Schläge der Dorfuhr heran, und die Glocken läuten die Christmette ein. Da schöpft die Mutter und geht, so schnell sie kann, wieder nach Haus. Sie kommt noch zur rechten Zeit, flößt dem todkranken Kind von dem Trank ein, und o Wunder! Das Kind schlägt die Augen auf, das Fieber beginnt von ihm zu weichen, und es ist bald heil und gesund.

Die Mutter hatte gemerkt, dass dem steinernen Krug ein würziger Duft entströmte, und sie täuschte sich nicht; der Krug enthielt köstlichen Wein.

Als dann im nächsten Jahre wieder Weihnachten kam, wurde die Frau gierig nach dem schmackhaften Wein und schlich sich vor Mitternacht mit einer Wasserstütze an den Brunnen, um wieder zu schöpfen. Doch diesmal schlug ihr eine unsichtbare Hand derart ins Gesicht, dass die Frevlerin umtaumelte und tot war.
Ph. Janson

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 142f