Blüten im Schnee

Es war im Dorfe Eisenbach ein Bauernsohn, ein kräftiger "Bub" mit einem trutzigen, harten Kopf gleich seinem Vater. Und als er mit diesem in einen Wortwechsel geriet, stürmte er voll jugendlichen Zornes aus dem Hofe seiner Eltern, fort in die fremde Welt.

Wohin? Er fiel Kriegswerbern in die Hände, und so geschah es, dass er im Heere Napoleons mit nach Spanien zog. Zwei Jahre schwanden dahin und drei: der Sohn kam nicht heim. Die Mutter hatte manche Schürze naß geweint, und schwerer Harm engte ihr die Brust.

Jetzt sind sieben Jahre vergangen, und kein Sohn ist gekommen. Er ist verschollen. Niemand weiß von ihm.

Und nun greift die Mutter zum letzten Mittel, um etwas über ihren Sohn zu erfahren.

Hört nur! Links, gleich neben dem Hoftor, reckte sich ein schlanker, doch stattlicher Baum, ein Kirschbaum. Den hatte der Vater am selben Tag gepflanzt, da ihm sein Junge geboren ward. Und beide wachsen auf, der Junge und das Bäumchen, und jener achtet mit Sorgfalt, dass "sein" Baum gedieh. Von diesem nun bricht die Mutter in ihrer Not am Heiligen Abend ein Reis und pflanzt es im Hofe in den starren Winterschnee. Wenn der Zweig Glock [sic] Mitternacht grünt und blüht, dann weiß die Mutter: ihr Sohn lebt und kehrt wieder heim.

Und die Mutter wartet drinnen im Stüblein Stunde um Stunde, und die Frau bangt und bebt und fleht.

Jetzt ist die Mitte der Christnacht da. Schlag Zwölf! - Das Herz der Mutter glüht, als sie den Hof betritt. Wo ist das Reis? Dort, inmitten des kristallenen Schnees! Ein Schrei! Ein Jubelruf! Herrgott, der Zweig grünt und blüht. Blüten, so weiß wie rundum der Glitzerschnee und doch so warm und duftig wie Lenzesatem.

Ja, der Sohn kommt heim. Schon, als im nächsten Frühjahr "sein" Baum aus tausenden Blütenaugen strahlt und im funkelneuen frischgrünen Gewande steht - wie zum feierlichen Empfang gerüstet -, findet der "Spanier" zurück zu den überglücklichen Eltern.

Der Sohn war männlich geworden und gesund geblieben. Und nie mehr verließ er die heimatliche Scholle. Er bepflanzte und hegte sie, bis auch er sie wieder weitergeben musste an seinen Sohn.

Im Dorfmunde ward der Heimgekehrte zeit seines Lebens der "Spanier" genannt.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 97f