Der Bettler von Mespelbrunn

Es ist frühmorgens, die Jäger haben sich bereits im Burghof zu Mespelbrunn versammelt, und jetzt kommt auch der Ritter, um sein Ross zu besteigen, das ungeduldig stampft und wiehert.

Als er zum Tore hinaus reiten will, steht ein Bettler davor und bittet um ein Almosen. "Geh hinweg", sagt der Ritter, "ich habe jetzt keine Zeit!" "Herr", bittet noch eindringlicher der Bettler, "nur einen Bissen Brot, ich bin sehr hungrig!" Doch der Ritter ruft zornig: "Fort, aus dem Wege!" gibt den Befehl zum Aufbruch, und mit Hörnerschall und Hundegekläff braust die Jagd zum Tor hinaus, so dass der Bettler nur wie durch ein Wunder unverletzt bleibt.

Die Jäger erlegen zahlreiches Wild, und in ihrem Eifer stürmten sie den langen Tag durch den Forst. Erst gegen Abend, als sie sich um ihren Herrn scharten, spürten sie, wie hungrig sie waren, und sie setzten sich zu einem Imbiss nieder. Doch da saust gerade ein mächtiger Hirsch vorbei. Der Ritter sieht ihn, wirft sich neuerdings in den Sattel und sprengt dem Tiere nach, obwohl heute die Jagd nicht nach Hirschen geht. Der Reiter kommt immer tiefer in den Wald hinein, und es ist wie ein Zauber, der den adeligen Weidmann lockt und nicht umkehren lässt. Da - auf einmal ist der prächtige Hirsch weg, und ebenso plötzlich ist das Pferd wie fest gebannt, und ruck! platzen am Sattel und Zaume die Riemen entzwei, wie von unsichtbarer Hand zerschnitten.

So steht der Herr von Mespelbrunn allein mitten im Dickicht; denn er vermag ohne Zügel das Ross nicht weiterzulenken.

Es ist eine finstere Nacht, das Schloss ist ferne, und von den Jagdgenossen ist keine Hilfe zu erwarten, da sie die Spur des Herrn verloren haben. Der überlegt: "Was tun?" Der Magen knurrt ihm vor Hunger, und es fröstelt ihn jetzt, nachdem er vorher bei der Hetze nach dem Wild in Schweiß gekommen war. Muss er im Walde übernachten? Als der Ritter ratlos stand und nicht aus noch ein wusste, trat plötzlich der Bettler von heute morgen aus dem Gebüsch und ging auf jenen zu. Er sprach kein Wort, nahm seine Halsbinde ab, riß sie in schmale Streifen und band damit, wie mit starken Riemen, den Sattel und die Zügel fest. Dann hielt er dem Ritter die Steigbügel und half ihm aufs Ross. In sprachlosem Staunen hatte der Reiter alles geschehen lassen und fragte aber dann: "Wer bist du?" Der Bettler erwiderte nichts darauf, sondern sagte bloß: "Herr, Ihr habt nun selbst gefühlt, wie Hunger und Verlassenheit tun! Ihr werdet wohl keinen hungrigen Menschen mehr abweisen!"

So sagte er und war verschwunden.

Beschämt ritt der adelige Weidmann davon und kam bald wieder in seine Burg.

Er stiftete hernach eine jährliche Brotverteilung, die bis in die neuere Zeit im Ingelheimer Hof zu Aschaffenburg vorgenommen wurde.

Julius Echter von Mespelbrunn
und die Gründung des Würzburger Juliusspitals

Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn war der Letzte seines Stammes und sehr reich. Da er als Bischof unvermählt und kinderlos blieb, machte er ein Testament, in dem er seinen Paten, den Sohn seiner Nichte, einer Gräfin von Ingelheim, zum Haupterben einsetzte. Er legte das Testament in eine Schachtel und überdeckte es mit Papier. Oben auf die Decke legte er drei Zitronen und sandte die versiegelte Schachtel durch einen eigenen Boten nach Mespelbrunn, wo seine Nichte mit ihrem Sohne wohnte. Als sie öffnete und nichts in der Schachtel sah als drei Zitronen, wurde sie etwas ärgerlich, wusste nicht, ob es ein Scherz oder ein Schimpf von dem geistlichen Oheim sein sollte, entschloss sich kurzerhand und schickte die Schachtel samt den Zitronen sogleich zurück. Bischof Julius wunderte sich und sandte mit der aufs Neue versiegelten Schachtel nochmals den Boten nach Mespelbrunn. Die Gräfin von Ingelheim wusste nicht, was sie davon halten sollte und wurde noch ärgerlicher. Sie schnitt eine Zitrone auf in der Meinung, es stecke vielleicht etwas Geheimes in den Früchten; allein da sie nichts fand, schickte sie die Schachtel abermals zurück.

Und zum dritten Mal kam der Bote von Würzburg mit seiner Schachtel und mit drei frischen Zitronen darin. Die Gräfin hatte fast keine Lust, das Paket zu öffnen, und als ihr wieder die drei Zitronen entgegenschimmerten, fehlte wenig, dass sie dieselben nahm und dem Boten an den Kopf warf. Sie besann sich aber doch und schnitt alle drei auf. Als sie aber in allen dreien nichts fand, ward ihr Zorn grenzenlos. Sie warf die Zitronen sogleich zum Fenster hinaus, dem Boten die wieder zugeklappte Schachtel an den Kopf und drohte ihm, wenn er noch einmal vor ihre Augen komme, so wolle sie ihn aus Mespelbrunn hinauspeitschen lassen.

Wie der Bote dem Bischof berichtete, was sich begeben hatte, sprach Julius: "Ich sehe wohl, Gott hat mein Vermögen zu anderer Verwendung bestimmt, entnahm der Schachtel das mit Papier bedeckte Testament und warf es ins Feuer. Hierauf gründete er von seinem Reichtum zu Würzburg das berühmte, segensreiche Hospital, das seinen Namen trägt, und durch welche Stiftung Julius Echter von Mespelbrunn sein Andenken groß und unsterblich gemacht hat für alle Zeiten.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 59ff