Die Befreiung

Im Hofe des Miltenberger Schlosses ragte ein Turm, der war ganz aus Quadern gebaut, und am Sockel des Turmes war die Mauer mehr als meterdick. Nun musste einmal in diesem festen, dunklen Burgverlies ein Gefangener schmachten, der sich unbändig nach der Freiheit sehnte. Und was tat er? Weil er kein anderes Werkzeug zur Hand hatte, nahm er seinen Eßlöffel und ritzte und schabte am Mauerwerk, bis er es durchgearbeitet hatte. Wie lange mag das gedauert haben!

Jetzt hatte der Gefangene den äußersten Quader losgebrochen, und schon blitzt da Sonnenlicht durch den Spalt. Da möchte der Mann in ungestümer Freude den Stein vollends nach außen stoßen. Doch, er besinnt sich und wartet auf die Nacht, und dann gelingt es ihm auch zu entfliehen.

Lange Jahre zeigte man am Sockel des Turmes einen Quaderstein, der mit Eisen befestigt war und an die erstaunliche Tat des Gefangenen erinnerte.

Etliche Einwohner zu Miltenberg meinten, das Ausbrechen aus dem dicken Turme könne unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein. Wer aber hätte dem Eingekerkerten die Hilfe geliehen? Etwa die Riesen, die einst auf den Höhen nächst der Stadt wohnten? Oder war es das kleine, unsichtbare Volk der Zwerge? Von hilfreichen Zwergen in Miltenberg weiß man nichts.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 139f