Die ungelesenen Messen

Als in Tegernsee auch das Kloster aufgehoben wurde, kam der Schopperherr nach Tölz, um dort abzusterben. Zehn Jahre hat er noch gelebt und daheim in der Hauskapelle jeden Tag seine Messe gelesen. Man hat ihn kaum gemerkt, so still hat er für sich gehaust. Aber nach seinem Tod hat er auf einmal von sich reden gemacht. Die Leute beim Schopperlederer haben jede Nacht vor dem Schlafengehen die Kapellentür zugesperrt, aber in der Früh war sie jedesmal wieder offen. Sie haben darüber Gedanken angestellt, wollten aber nicht, daß ein Gerede daraus würde. Wie aber einmal der Gerberin ihr Werkführer, der Andrä, ein geborener Wiener, in der Nacht im Hof etwas zu tun hatte und nachher wieder in seine Kammer hinauf wollte, sah er den geistlichen Herrn in seinem napoleonfarbigen, strohgelben Werktagsrock wie leibhaftig die Stiege herabkommen. Der Andrä drückte sich in eine Ecke und getraute sich nicht den Herrn anzureden. Am andern Tag erzählte er es den zwei Stiefgeschwistern. Die gaben nicht viel darauf und sagten: "O mein, es ist nichts dahinter. Es hat dir halt geträumt!" Aber die eine brachte die Sache doch nicht aus dem Kopf und ging in den Pfarrhof. Der Pfarrer Steidl gab ihr auf, in der Kapelle und im ganzen Haus fleißig Nachschau zu halten, ob sie nicht auf etwas Verstecktes stoße. Sie suchte und suchte überall, konnte aber lang nichts finden, bis hinter einer kleinen Tafel an der Wand doch ein zusammengewickeltes Papier mit dem Geld für zwei oder drei Messen zum Vorschein kam. Als die Messen in der Kirche gelesen waren, wurde es im Hause ruhig und der Schopperherr brauchte nicht mehr umgehen.

Quelle: Sagen aus dem Isarwinkel, Willibald Schmidt, Bad Tölz, 1936, 1979;