Der schlafende Riese

Einmal war ein Bauer eines Handels wegen mit seinem Änzwagen auf Mittenwald gefahren. Weil er mit seinem Geschäft zufrieden war und der Wein in den Mittenwalder Trinkstuben gar so gut schmeckte, ließ er seine zwei Öchsl auf der Rottstraße stehen, dieweil ihm der rote Tiroler in den Hals rann. "Die Öchsl sollen sich halt die schönen Bildl an den Häusern gut anschauen, warum sind sie denn aufgemalt?" Wie schon der Bergschatten auf die steinbeschwerten Schindeldächer fiel, da schnalzte er mit seiner Geißel lustig und fidel zum Ort hinaus. Und wie er nun neben dem Wasser her gegen den Walchensee fuhr, da wurde es schon Nacht und der Bauer nickte auf seinem Wagen ein.

Aber auf einmal weckte ihn ein mächtiger Windstoß, der ihm heiß unter den Hut ins Gesicht griff. Das war ein seltsamer Wind, wie ihn der Bauer noch nicht erlebt hatte. Einmal ging er so stark, daß es die Bäume an der Straße bog und nachher setzte er wieder fast ganz aus, daß es war wie ein lautes Schnaufen. Und das immer eins nach dem andern. Man hätte es mit der Uhr nachzählen können, wenn es nicht so finster gewesen wäre. Der Bauer wollte so schnell wie möglich von dem scheuchtsamen Ort weiterkommen und trieb die Öchsl an. Aber auf einmal gingen sie noch langsamer und konnten den Wagen kaum mehr derziehen. Der Weg lief jetzt ganz hoch hinauf wie auf den Heimgarten und war doch immer schnureben da herausgegangen bis zum Seezipfel. Der Bauer hätte darauf den stärksten Eid schwören mögen. Da mußten die Ochsen ganz von der Straße abgekommen sein. Der Änzwagen wurde in die Höhe gehoben und ging wieder nieder, wie wenn die Hexen ihren G'spaß damit hätten und der seltsame Wind wurde immer ärger und heißer. "Ich muß ins wilde Gjaid gekommen sein!" dachte sich der Bauer und schlug schnell dreimal hintereinander das heilige Kreuz.

Aber der Himmel oben war ganz still und jetzt konnte man sogar ein paar Sterne sehen. Die Bäume waren schon tief unten. Der Bauer hatte das Leitseil fallen lassen und hielt sich am Wagen ein. Die Öchsl plagten sich immer weiter. Auf einmal ging es in eine finstere Höhle hinein, in der es noch finsterer war wie unten im nachtschwarzen Wald. Der Bauer packte die Zügel und stemmte sich mit den Füßen ein. Aber er spürte, wie die Ochsen samt dem Wagen hineingerissen wurden und er damit. Er dachte nichts mehr, als daß sein letztes Stündlein geschlagen hat. Und jetzt zitterte der ganze Berg. Und bis der Bauer dachte, daß er etwas wie ein fürchterlich lautes Niesen gehört hat, merkte er, daß er mitsamt seinem Änzgefährt rückaus durch die Luft flog. Da lag er auch schon neben seinen Ochsen auf einer Wiese und schaute nicht gescheiter wie die. Weil aber nichts gebrochen war, kein Rad und kein Fuß, nicht bei ihm und nicht bei den Ochsen, setzte er halt seinen Wagen wieder in Gang und fand auch bald eine Straße. In der Früh kam er von der Tiroler Seite her wieder auf Mittenwald, wo er am Nachmittag nach der anderen Seite hinausgefahren war.

Und so ist das gewesen:

Ein Bergriese war aus dem Karwendel herabgekommen, um am Walchensee seinen Durst zu löschen. Und wie er, auf dem Bauch liegend, lange genug getrunken hatte, drehte er sich um und schlief ein. Sein Schnarchen hatte der Bauer wie einen stoßweisen Sturm gespürt und nachher war er auf den Leib des Riesen gefahren. Und wie er beim Einschnaufen in das Nasenloch des Riesen gerissen wurde, hat der niesen müssen und ihn bis über Mittenwald hinaus durch die Luft geblasen. Seit der Zeit hat man den Bergriesen nicht mehr gesehen.

Quelle: Sagen aus dem Isarwinkel, Willibald Schmidt, Bad Tölz, 1936, 1979;