DER TREUE STAR

Von dem Geschlechte der Markgrafen von Cham-Vohburg geht die Sage, dass einmal ein Fräulein des Hauses im zarten Kindesalter durch die Zigeuner geraubt worden sei. Ein Star, der im Schlosse gehalten wurde, flog den Räubern nach und begleitete sie aller Orten hin auf ihren Kreuz und Querzügen. Wenn sie rasteten, ließ auch er auf einem nahen Baum sich nieder und begann die ihm eingelernten Sprüche herzuplappern. Die Räuber besorgten nun, durch den Vogel verraten zu werden, und stellten ihm auf alle mögliche Weise nach. Aber das kluge Tier wusste ihnen immer zu entgehen. Da wurde den Zigeunern ernstlich bange. Sie wollten das Kind nicht länger bei sich haben und setzten es an der Schwelle einer einsamen Herberge im Böhmerwald aus; der Star aber schwang sich auf den Giebel des Hauses und sang da mit heller Stimme.

Die Wirtin, eine arme, gutmütige Frau, nahm sich des Findlings bestens an und fütterte auch getreulich den Star, der sich von der Kleinen durchaus nicht trennen wollte. Wohl dachte sie, wenn sie das feine, zierlich ausgenähte Hemdlein des Kindes beschaute, dass es aus einem vornehmen Haus stammen müsste, aber von dem Raube in der markgräflichen Burg vernahm sie in ihrer Einöde kein Wort und so blieb das Mädchen bei ihr und wuchs heran.

Eines Tages kehrte ein Ritter in der Herberge ein, den ein Gewitter überrascht hatte. Und während der Gast am Tisch bei einem Kruge Wein saß, hüpfte der Star hinterm Ofenbrett hervor, flatterte mit seinen Schwingen, als wollte er gesehen werden, und ließ sodann seine Sprüche und Liedlein vernehmen. Dem Ritter war, als hätte er den Vogel vor langer Zeit schon gesehen und gehört, und er fragte die Wirtin, woher sie das Tier habe. Die erzählte ihm die Geschichte des Mädchens, so viel sie davon wusste, und brachte auch das Hemdlein herbei, welches sie bis zur Stunde sorgfältig aufbewahrt hatte. Der Ritter erkannte an der Stickerei mit freudigem Schrecken das Wappen seines Hauses und verlangte augenblicklich das Mädchen zu sehen. Es wurde von der Wiese hereingerufen, wo es eben Gras mähte, und der Ritter erstaunte über ihre seltene Schönheit. Er nahm sie bei der Hand und streifte hastig mit der linken das Busentüchlein etwas zurück. Da wurde in der Gegend der Schulter ein Muttermal sichtbar in Form einer Kreuzdornblüte. Alsbald fiel der Ritter dem Mädchen um den Hals und rief: "Ich bin der Graf von Vohburg und du bist meine Schwester, die wir so lange beweint haben. Dieses Zeichen gibt dich mir zu erkennen; unsere Mutter hat uns oft genug davon gesagt." Wiederum umarmte der Graf die schöne Schwester, als sollte das gar kein Ende nehmen.

Da saß er zu Ross und nahm sie vor sich in den Sattel. Der Star aber erhob ein freudiges Geschrei und flog an ihrer Seite der Heimat zu. Welcher Jubel sich dort erhob, als das verlorene Fräulein seinen Einzug hielt, lässt sich schwer beschreiben. Die Eltern bereiteten ein großes Freudenmahl, zu dem alle Verwandten und Dienstleute des Hauses geladen waren, und der Star spazierte während der Gasterei auf den Tischen herum, als wollte er von allen gelobt werden.


Quelle: Friedrich Lüers, Bayrische Stammeskunde, o. J.