DER JUNGFERNTURM UND DIE EISERNE JUNGFRAU

An jenem Reste der ehemaligen Stadtmauer, welcher sich vom St. Salvatorplatze - dem sogenannten griechischen Markte - bis zur Häuserreihe des Maximilians- oder Dultplatzes hinzieht, ist eine Gedenktafel angebracht mit der Inschrift:


Hier stand der
Jungfernturm,
erbaut im Jahre
1493
Abgebrochen
im Jahre 1804


Auf diesem Jungfernturm haftet eine schauerlich-romantische Volkssage. Danach soll in demselben eine eiserne Statue der heiligen Jungfrau gewesen sein, welche das Schlachtopfer, dessen Tod beschlossen war, habe küssen müssen.

Zur gleichen Zeit öffnete sich der Boden unter seinen Füßen, und der Unglückliche versank in die Tiefe des Verlieses. Nach einer anderen Erzählung öffnete sich unter dem Verurteilten eine Falltüre, und derselbe sank in der Tiefe in die Arme der eisernen Jungfrau, die ihn umschloß und an ihre mit Dolchen gespickte Brust drückte, während zugleich die mit Schwertern bewaffneten Arme ihn zerfleischten und der Unglückliche hierdurch des qualvollen Todes starb. Namentlich knüpfte die heutige Volkssage dieses geheimnisvolle Walten der eisernen Jungfrau an die Zeit des Kurfürsten Karl Theodor, durch dessen geheimen Ausschuß, an dessen Spitze der berüchtigte geheime Rat Lippert stand, allerdings ohne gerichtliches Urteil Landesverweisungen ausgesprochen, Todesurteile gefällt und ohne Geräusch heimlich vollzogen wurden. Personen, welche durch revolutionäre Grundsätze dem Staat gefährlich schienen, sollen dieser Sage nach plötzlich verhaftet, durch den gespenstigen "Einspänniger" in die Residenz abgeführt, dort im gefürchteten gelben Zimmer von dem geheimen Ausschuß abgehört und verurteilt und sodann in dem Jungfrauenturm durch die Arme der eisernen Jungfrau ermordet worden sein. Die Münchener Sage benennt sogar mit Bestimmtheit den Hauptmann des churbayerischen Leibregiments Franz von Unertl, welcher am Abende des 6. Januar 1796 aus einem Gasthause dahier mit dem Einspänniger abgeholt und am 7. Januar morgens drei Uhr durch die eiserne Jungfrau hingerichtet worden sein soll.


Quelle: J. M. Mayer, Münchener Stadtbuch. Geschichtliche Bilder aus dem alten München. München 1868