200. Der "Wiesenseppl" und die Lechtaler Traudl.
Auf einer Alpe im Lechtale ging früher jahrelang ein ehemaliger
Senn um, der zu Lebzeiten das ihm anvertraute Vieh vernachlässigte
und verschuldete, daß öfters solches bei der Weide totfiel.
Wenn man im Herbste mit der Herde abgezogen war, zog der Geist in der
Hütte ein und mußte nun eine große Herde hüten und
versorgen. Man hörte dann Glocken- und Schellengeläute, im Stalle
Lärmen und Poltern, und so wurde der Geist allgemein gefürchtet
und die Hütte bis zum Alpzug im Frühjahr gemieden. Man hieß
den Geist den "Wiesenseppl". Damals lebte im Lechtal ein ungemein
kuraschiertes Mädle Namens Traudl, die weitaus am besten tanzte im
ganzen Tale und daher stets "Prangere" war. Sie tat es in allen
Dingen den Burschen gleich, und wollte es sogar mit dem geistenden Wiesenseppl
aufnehmen, den sie nicht fürchte. Wenn man ihr fünf Gulden gäbe,
wolle sie allein in die Hütte, und zum Beweise, daß sie dort
gewesen, wolle sie eine "Schuefe", die man beim Abzüge
zurückgelassen hatte, mitbringen. Auch ein Feuer wolle sie anbrennen.
Da wetteten einige mit ihr, und die Traudl machte sich daran die Wette
zu gewinnen, und stieg auf die Alpe. Beherzt ging sie hinein in die Hütte,
holte die Schuefe hervor und wollte schon ein Feuer anmachen, als der
Wiesenseppl unter wildem Lärm und Gejohle kam. Er sah fürchterlich
wild aus, blinzelte gar zornig mit seinen großen Augen und schritt
auf die Traudl zu. Diese bekam Furcht und Schrecken, und eilig floh sie
zur Hütte hinaus, den Berg hinab, bis sie ganz außer Atem zu
einem alten grauen Männchen kam, das in den unteren Gelägen
noch spät im Herbste die Geißen hütete. Kaum daß
sie diesem noch erzählen konnte, was sie gesehen, wurde sie ohnmächtig
und starb darauf. Da brachte man sie tot zu Tal, und am nächsten
Sonntag, wo wieder Tanzmusik und sie Prangerin gewesen wäre, trug
man sie zu Grabe. Von diesem Wiesenseppl hat man aber später nichts
mehr gehört oder gesehen.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 200, S. 203 - 204.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.