216. Unsere liebe Frau im Allgäu.

Auch unsere liebe Frau ist ins Allgäu gekommen und hatte daselbst wie die ärmsten Leute von Kraut und Bohnen gelebt. Sie hatte diese Gottesgaben so sehr in Ehren gehalten, daß sie sich einst dreimal bückte um eine Bohne, die auf dem Boden lag, aufzuheben.

Weil sie, wie ihr Sohn, nichts hatte, wo sie ihr Haupt hinlegen konnte, so mußte sie oft bei Sturm und Wetter auf freiem Felde bleiben. Da ist sie jedesmal unter einem Haselnußstrauch untergestanden, um sich gegen das Wetter zu schützen. Drum soll man, wenn es ein Wetter hat und man im Freien ist, nicht unter einem hohen Baume, sondern unter einem Haselnußstrauche Zuflucht suchen. Und weil die Mutter Gottes in ihrer Armut aus dem Bächlein getrunken, darum soll man nie ein fließendes Wasser verunreinigen; es wäre dies eine Beleidigung unserer lieben Frau. Auch den Muttergotteskäferlein darf man nichts zuleide tun, weil sie unter ihrem besonderen Schutze stehen. Am Samstag hat unsere liebe Frau jedesmal vom frühen Morgen bis Sonnenuntergang gebetet; darum ist ihr der Samstag ganz besonders geheiliget, und darum macht man an diesem Tage früher Feierabend und betet ihr zu Ehren den Rosenkranz. Da ist einmal ein Mädchen, das am Samstag abend noch spann, recht sehr erschreckt worden. Ihr Großvater ist ihr erschienen und hat ihr das Halsumdrehen gedroht, wenn sie nicht binnen einer Stunde mit ihrem Rocken fertig werbe und dann Feierabend mache. Das Mädchen wußte sich zu helfen. Es wand den Flachs ungesponnen um die Spindeln, und als der Großvater wiedererschien, war die Gunkel ganz leer. "Das hat dir dein Schutzengel eingegeben," sagte der Großvater; "aber hinfüro hüte dich, daß du am Samstag Abend nicht mehr arbeitest!"

Nach anderer Sage hat die Mutter Gottes am Samstag ihre Wäsche getrocknet. Seitdem vergeht kein Samstag im Jahre, wo nicht wenigstens auf einige Augenblicke die Sonne scheint. Nur drei Samstag, die "dunklen Samstage", bilden eine Ausnahme; an diesen hat die Mutter Gottes den ganzen Tag gebetet.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 216, S. 222 - 223.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.