262. Schätze sonnen sich.

1.

Alle in der Erde ruhenden Schätze haben bestimmte Zeiten, in denen sie zur Oberfläche kommen und sich sonnen müssen, und wobei man sie am leichtesten gewinnen kann, wenn man Schweigen beobachtet und sonst keinen Fehler macht.

Einmal hörten auch zwei laubende Mädchen von Hinterstein auf den Eggwiesen ein gewaltiges unterirdisches Gerassel und Tosen, als wollte der ganze Berg abrutschen. Dann bemerkten sie, wie kaum zwanzig Schritte vor ihnen etwas aus dem Boden herauskam, das wie die Sonne so hell glänzte, so lang und dick wie ein Sägbaum war und im Bogen durch die Luft fuhr und wieder zurück zum Boden. Die wundervolle Erscheinung wiederholte sich immer wieder von neuem, bis endlich alles verschwand. Als hernach die Mädchen zu dem Platz hingingen, fanden sie gar nichts Auffallendes. Zu Hause erzählten sie, was sie gesehen hatten, und da erklärte der alte Urchar, das sei ein Schatz gewesen, der sich gesonnt habe. Wenn sie etwas Geweihtes oder im Notfalle einige Brosamen schnell darauf geworfen hätten, so wäre der Schatz herausgeblieben, und sie hätten denselben heben können.

Auch in der Nähe des Wilden Fräuleinssteines sah einmal eine Hirtenföl einen Schatz auf einem Felsblocke sich sonnen und wundervoll rote, grüne und braune Strahlen aussenden. Das Mädchen aber fürchtete sich und sprang davon, und bis man hernach wieder hinkam, war der Schatz schon wieder versunken.

2.

Vor Zeiten hüteten einmal in einer Alpe bei Wertach ein Büble und ein Mädle das Vieh. Da bemerkten sie plötzlich vor sich in der Nähe eine große schöne Truhe, liefen hin und fanden dieselbe voller funkelnden Goldstücke. Da zog der Knabe den Kittel aus, breitete ihn auf dem Boden auseinander und fing an von dem Gelde zu "hampfeln" und auf dem Kittel aufzuhäufen, und das Mädchen "hampfelte" in das Schürzchen, so schnell sie konnte. Als aber das Büble einmal zufällig sich umwandte, erblickte es einen fürchterlich großen schwarzen Pudel vor sich. Da tat es einen Schrei, und nun ließ das Mädchen den Schurz aus, und beide liefen davon, ohne sich Zeit zu lassen von dem Gelde mitzunehmen. Als die Hirtenkinder daheim das Erlebte erzählten, eilte man schnell zurück zur Stelle; allein nun war die Truhe und alles Gold verschwunden, und nur der leere Kittel des Knaben lag noch ausgebreitet auf dem Boden.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 262, S. 269ff.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.