253. Der Räuber und die zwölf Müllerstöchter.
Im untern Windhag bei Immenried unterhalb Kislegg zeigte man früher
(und hie und da jetzt noch) eine Stelle im Wald, wo einmal ein Räuber
gehaust haben soll. Dieser Räuber sei ein furchtbarer Zauberer gewesen
und hätte das Blut von zwölf Jungfrauen gebraucht, um seine
Zauberei recht auszuüben. Anderwärts sagt man, er wäre
mit einem Müller in Streitigkeit geraten und hätte an dessen
Töchtern Rache nehmen wollen. Es soll nämlich in der Gegend
von Kislegg ein Müller gewesen sein, der zwölf Töchter
hatte. Der Räuber kam und holte eine nach der andern und sagte dem
Müller schöne Dinge vor, bis er ihm wieder eine abtrat. Hatte
er wieder eine von den Schwestern geholt, so setzte er sich mit ihr unter
eine himmelhohe Tanne, flocht einen Weidenstrick, während dessen
ihm die Jungfrau lausen mußte. Der Räuber sagte niemalen, wozu
er den Strick flechte. Suchte dabei sich mit seinem Opfer auf die verschiedenste
Weise zu unterhalten. Als er sich einstmalen gerade mit der Zwölften
unterhielt und diese ihm lausen mußte, fiel ein Tropfen Bluts von
der hohen Tanne herab ihr auf die Hand. Die Müllerstochter schaute
auf und sah ihre elf Schwestern droben hangen, an Weidenstricken hoch
an der Tanne aufgeknüpft. Sie tat einen furchtbaren Schrei, und als
der Räuber merkte, daß sie ihr Los kenne, sagte er ihr, sie
solle sich zum Tode vorbereiten und ihr Gebetlein verrichten. Sie bat
sich noch drei Bitten aus, die er sie tun lasse. Sie tat drei Schrei,
den einen zu Jesus, den andern zur Mutter Gottes, den dritten zum Bruder.
Siehe, da kam ein Jäger mit zahllosen Hunden, ergriff den Räuber,
befreite die Schwester und übergab jenen dem Blutgerichte. Der Jäger
mit den Hunden war ihr Bruder.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers
"Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus"
ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 253,
S. 262f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.