197. Das Geißtor zu Kaufbeuren.
Um die Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, im Kampfe der Städte
gegen die Fürsten, zog Herzog Teck von Mindelheim mit vielem Kriegsvolk
gegen Kaufbeuren und belagerte die Stadt. Tapfer verteidigten sich die
Bürger, wohlverwahrt hinter Mauern und Türmen. Indessen brach
eine Hungersnot aus; denn unversehens war der Mindelheimer vor die Stadt
gekommen; man konnte nur die Tore schließen, aber keine Getreidevorräte
mehr für eine lange Belagerung schaffen. Der Bedrang war groß.
Da machte sich eines Tages ein alter Weber, dem die Jahre den grauen Bart
schon völlig weiß gebleicht hatten, neugierig, aber schüchtern
auf die Stadtmauer und lugte durch eine Schießscharte zu dem Feinde
ins Feld hinaus. Auf einmal sieht er ein rasches Bewegen im Lager und
die Fähnlein immer weiter und weiter ziehen, bis sie endlich ganz
seinem Auge entschwinden. Allgemeines Staunen in der Stadt über den
unbegreiflichen Vorgang. Erst später erfuhr man, daß die Belagerer
den alten Weber mit seinem weißen Bart für einen Geißbock
gehalten und daraus abgenommen hatten, die Stadt, die sie wegen ihrer
Festigkeit und tapferen Gegenwehr nur durch Hunger erobern konnten, müßte
noch bedeutende Vorräte an Lebensmitteln haben. Das Tor, wo der Weber
hinausschaute, wurde von selber Zeit an das Geißtor geheißen.
Auch nachdem es längst abgebrochen, erinnert noch das daranstoßende
Wirtshaus des "Geißwirts" an die Geschichte.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 197, S. 201.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.