267. Der Geist auf der Burg Stein.

Auf der Burg Stein bei Ronsberg, die jetzt ganz zerfallen ist, war es seinerzeit nie recht geheuer, und besonders war es der obere Saal, wo es allnächtlich spukte und wo sich niemand aufhalten mochte. Als einmal ein ungewöhnlich großer und baumstarker Mann auf dem Schlosse arbeiten half und behauptete, daß er sich vor nichts fürchte, so wies man ihm den berüchtigten Saal als Schlafstätte an, was der Mann auch ohne Widerrede annahm, da er vom Geisterspuk nichts wußte. Das Gesinde aber war höchst neugierig, wie es ihm da ergehen werde, und ob er da nicht doch das Fürchten lerne. Um Mitternacht, als der Mann schon lange geschlafen hatte, öffnete sich die Saaltüre, und ein schwarzer Mann mit langem Faltenmantel, wie ihn die Mönche früher trugen, und einer Schreibfeder hinterm Ohr trat herein. Er schritt in dem Saale herum, schaute zum Fenster hinaus und stellte sich dann vor das Bett des Taglöhners, ihn lange stier und traurig anblickend. Dieser aber lernte jetzt das Fürchten so gut, daß er sich kaum zu schnaufen getraute, viel weniger den Geist anzureden, der nach einiger Zeit traurig wieder den Saal hinausschritt, wie er gekommen war. Am Morgen aber wollte der Prahlhans nicht eingestehen, daß er sich während der Nacht gefürchtet habe, und darum verheimlichte er lange, was er gesehen, bis er es später einmal doch erzählte.

Man hielt den Geist mit der Feder hinter dem Ohre für einen ehemaligen Schloß- oder Klosterschreiber, der wahrscheinlich sich einstens mit Schriftenfälschung verfehlt hatte.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 267, S. 273f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.