Die Stationstafel an der Frauenkirche

Im Hauptportal des Frauendoms befindet sich, rechts in die äußere Kirchenwand eingemauert, ein uraltes, steinernes Stationsbild. Das kleine Bild ist noch sehr gut erhalten und stellt den Heiland auf dem Ölberge vor. Vor langer Zeit mag es wohl den Grabstein eines Münchener Bürgers geschmückt haben. Die Sage weiß von dieser unscheinbaren Stationstafel aus vergangenen Tagen zu erzählen:

Es war um das Jahr 1390, also hinten im engen Thiereckgäßchen eine zwar arme, aber fromme Witwe mit ihrem einzigen Buben wohnte. Sie hatte den Knaben sehr lieb und zog ihn zu einem ordentlichen Menschen heran. Als der Bub groß geworden war, kam er aber in eine gar schlimme, gottlose Gesellschaft, die ihn zu einem bösen Menschen verdarb. Nicht lange, dann wurde der mißratene Sohn auch gegen seine arme Mutter roh. Nach kurzer Zeit verlangte der Bursche mit den Worten: „Mein Geld her, daß ich’s mit meinen Freunden versaufen kann!“ sein väterliches Erbe heraus. Als die Mutter wohlmeinende Ermahnungen an ihn richtete, fing er sogleich gar wüst zu fluchen an und erhob sogar die Hand, um nach der alten Frau zu schlagen. Da blieb ihm aber der rechte Arm steif und es dauerte geraume Zeit, bis er ihn wieder bewegen konnte. Ob dieser göttlichen Strafe erschrak der böse Geselle natürlich gar sehr und nahm sich vor, nunmehr sein Leben zu bessern. Das gute Tun des Sohnes dauerte jedoch nicht lange und bald wurde er noch schlimmer als zuvor. Auf sein wiederholtes Verlangen gab ihm die Mutter endlich das kleine Erbteil heraus. Kaum hatte der ungeratene Sohn das Geld in Besitz, so spie er der Mutter ins Gesicht, schrie: „Lustig gelebt – selig gestorben!“ und zon in die Welt hinaus. Manch heiße Träne weinte die alte Frau ihrem verlornen Sohne nach. Einmal ging sie zu einem Steinmetz und ließ eine Tafel, die Christus auf dem Ölberge darstellte, aus gutem, wetterfesten Stein meißeln. Sie dachte dabei an ihren Leidenskelch. Als der Stein ausgemeißelt war, bat sie, daß man ihr gestatten möge, dieses Stationsbild bei der Türe der alten, kleinen Marienkirche, die sich vor langer Zeit an der Stelle des heutigen Frauendomes erhob, anbringen zu lassen. Diese Bitte wurde der Witwe gerne gewährt, und als die Steintafel angebracht war, kam die Frau sehr oft zu diesem Bilde hin, um für ihren Sohn zu beten.

So verging Jahr um Jahr und aus dem Sohn, der sein ganzes Geld verjubelt, wurde ein verwegener Straßenräuber. Eines Tages fiel er in die Hände des Gerichtes und kam in das Gefängnis, wo er alsbald sein schlechtes Leben aufrichtig bereute und von dem einzigen Wunsche beseelt war, seine alte Mutter wieder zu sehen. Die Jahre der Gefangenschaft zogen langsam dahin, und als der Büßer endlich wieder die ersehnte Freiheit erhielt, kehrte er sogleich in seine Vaterstadt zurück. Als er aber in die Thiereckgasse kam und das Haus seiner Mutter betrat, um sich derselben reuig zu Füßen zu werfen, wurde er von fremden Leuten empfangen und man sagte ihm, daß sein Mutter längst gestorben sei und im Marienkirchhof unter dem Ölbergbilde aus Stein liege. Wohl eilte der zurückgekehrte Sohn zum Friedhof; vor ihrem Grabe sank er in die Knie, aber die Mutter wurde nimmer lebendig. Nun wollte auch der verzweifelte Bursche nimmer leben und rief: „Mutter, laß mich zu dir und gib mir ein Zeichen, daß ich es weiß, wie lange ich noch lebe.“ Da schlug die Glocke des alten Marienkirchleins siebenmal…. Und nach sieben Tagen starb der Sohn und kam zu seiner Mutter in das Grab.

Später wurde das kleine Marienkirchlein abgebrochen und die steinerne Stationstafel entfernt. Als der Dom erbaut war, kam das Bild an das Hauptportal.

Quelle: Willy Rett, Propyläen, 8. Jahrg.
Altbayerische Sagen, Ausgewählt vom Jugendschriften-Ausschuss des Bezirkslehrervereins München, München 1906.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2013. 
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