Der Löw‘ im Tal

Der Löw‘ im Tal (an dem Eckhaus der Sparkassenstraße, gegenüber dem alten Rathaus) ist ein uraltes Wahrzeichen. Es erinnert wohl an Heinrich den Löwen, den weltberühmten Herzog von Bayern und Braunschweig. Von dem erzählt die Sage:

Vor Zeiten zog Herzog Heinrich nach Abenteuern aus und kam in einen weiten wilden Wald. In diesem Walde ging der Herzog eine gute Weile fort; da sah er einen fürchterlichen Lindwurm wider einen Löwen streiten und der Löwe schwebte in großer Not, zu unterliegen. Weil aber der Löwe insgemein für ein edles und treues Tier gehalten wird und der Wurm für ein böses, giftiges, säumte Herzog Heinrich nicht, sondern sprang dem Löwen mit seiner Hilfe bei. Der Lindwurm schrie, daß es durch den Wald erscholl und wehrte sich lange Zeit; endlich gelang es dem Helden, ihn mit seinem guten Schwerte zu töten. Hierauf nahte sich der Löwe, legte sich zu des Herzogs Füßen neben den Schild auf den Boden und verließ ihn nimmermehr von dieser Stunde an. Denn als der Herzog nach Verlauf einiger Zeit, während welcher das treue Tier ihn mit gefangenem Hirsch und anderem Wild ernährt hatte, überlegte, wie er aus dieser Einöde und der Gesellschaft des Löwen wieder unter die Menschen gelangen könnte, baute er sich ein Floß aus zusammengelegtem Holz, mit Reis durchflochten, und setzte sich aufs Meer. Als nun einmal der Löwe in den Wald zu jagen gegangen war, bestieg Heinrich sein Fahrzeug und stieß vom Ufer ab. Der Löwe aber, welcher Zurückkehrte und seinen Herrn nicht mehr fand, kam zum Gestade und erblickte ihn in weiter Ferne; alsobald sprang er in die Wogen und schwamm solange, bis er auf dem Floß bei dem Herzog war, zu dessen Füßen er sich ruhig niederlegte. Hierauf fuhren sie eine Zeitlang auf den Meereswellen; bald überkam sie Hunger und Elend. Der Held betete und wachte, hatte Tag und Nacht keine Ruh; da erschien ihm der böse Teufel und sprach: „Herzog, ich bringe dir Botschaft; die schwebst hier in Pein und Not auf dem offenen Meere und daheim zu Braunschweig ist lauter Freude.“ Da wurde der herzog traurig. Der Teufel aber schlug ihm vor: er wolle ihn ohne Schaden samt dem Löwen noch heut Abend auf den Giersberg vor Braunschweig tragen und hinlegen, da solle er seiner warten; finde er ihn aber nach der Zurückkunft schlafend, so sei er ihm und seinem Reich verfallen.

Der Herzog ging dieses ein und hoffte auf des Himmels Beistand wider alle Künste des Bösen. Alsbald ergriff ihn der Teufel, führte ihn schnell durch die Lüfte bis vor Braunschweig, legte ihn auf dem Giersberg nieder und rief: „Nun wache, Herr, ich kehre bald wieder.“ Heinrich aber war auf’s höchste ermüdet und der Schlaf setzte ihm mächtig zu. Nun fuhr der Teufel zurück und wollte den Löwen, wie er verheißen hatte, auch abholen; es währte nicht lange, so kam er mit dem treuen Tiere dahergeflogen. Als nun der Teufel noch aus der Luft herunter den Herzog in Müdigkeit versenkt auf dem Giersberg ruhen sah, freute er sich schon im voraus; allein der Löwe, der seinen Herrn für tot hielt, hub alut zu schreien an, daß Heinrich in demselben Augenblicke erwachte. Der böse Feind sah nun sein Spiel verloren und bereute es zu spät, das wilde Tier herbeigeholt zu haben; er warf den Löwen aus der Luft herab zu Boden daß es krachte. Der Löwe kam glücklich auf den Berg zu seinem Herrn, welcher Gott dankte und sich aufrichtete um, weil es Abend werden wollte, hinab in die Stadt Braunschweig zu gehen. Nach der Burg war sein Gang und der Löwe folgte ihm immer nach. Hierauf regierte Herzog Heinrich noch lange in seinem Reich; als er verstarb, legte sich der Löwe auf des Herrn Grab und wich nicht davon, bis auch er verschied.

Quelle: Nach Grimm, Deutsche Sagen, S. 393.
Altbayerische Sagen, Ausgewählt vom Jugendschriften-Ausschuss des Bezirkslehrervereins München, München 1906.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2013. 
© digitale Version: www.SAGEN.at .