Tauerngold - Ein Märchen aus den Bergen
von Friedrich Fischer

Vorgeschichte

Brr, war das eine kalte Dusche, die sich über den ahnungslosen Bruder Klaus ergoß, der seit einer Viertelstunde auf einem Felsblock am Ufer des Karsees saß und gerade Brotzeit hielt. Er war schon seit dem frühen Morgen unterwegs, um gegen Mittag noch die Paßhöhe zu erreichen. Die Sonne schien aus vollen Kräften, es war ganz stille gewesen, weit und breit war niemand zu sehen und zu hören - und plötzlich dieser kalte Guß! Ehe er sich das Wasser aus den Augen gewischt hatte, hörte er ein höhnisches Gelächter und als er ins Wasser blickte, waren ein paar Ringe zu sehen, als hätte jemand einen Stein ins Wasser geworfen. Dann stiegen einige Luftblasen auf, als wäre etwas im Wasser versunken. Das klang wie "gluck, gluck, gugeluck".

In der Linken hielt Bruder Klaus ein Stück Brot, das ganz durchnäßt war, in der Rechten hielt er ein kleines, in Schweinsleder gebundenes Buch, in dem er soeben gelesen hatte. Bruder Klaus erhob sich, glitzernde Tropfen rieselten ihm vom Gesicht und Bart und ein Wasserschwall platschte von seiner Kutte zu Boden. Hatte ihm der Leibhaftige einen bösen Streich gespielt? Immerhin war sein Gewissen nicht ganz rein, besonders, was das Buch betrifft, in dem er gerade gelesen hatte. Kurzentschlossen und einem kräftigen Schwung warf er das Buch ins Wasser, wo es die schweren Metallschließen bald in die Tiefe zogen. Nun war er eine Versuchung los, die ihm schon seit einiger Zeit zu schaffen machte.

Es kam so: Bruder Klaus war vor sieben Jahren ins Kloster des heiligen Vitus eingetreten, wo er bald wegen seines fröhlichen Wesens bei seinen Mitbrüdern und beim Abt recht beliebt war. Dies hatte er keineswegs seiner Geschicklichkeit zu verdanken. Zuerst verwendete man ihn in der Gärtnerei. Der liebe Gott muß genau gewußt haben, warum er den Garten Eden dem Adam und nicht Bruder Klaus anvertraut hatte. Eine Vertreibung wegen des Sündenfalles hätte sich da erübrigt, denn Bruder Klaus wäre es gelungen, den Garten Eden in einem Jahr so zuzurichten, daß Gott das Werk seiner Schöpfung nicht wiedererkannt hätte. Also steckte man den Bruder Klaus in die Küche. Wenn dann der penetrante Gestank von der angebrannten Milch durch die Räume des Klosters zog, wußten alle, hier war Bruder Klaus am Werk. Beim Beten des Vaterunsers um das täglich Brot fügten manche die heimlich Bitte dazu, Bruder Klaus möge das Brot im Ofen nicht verbrennen lassen. So landete Bruder Klaus schließlich in der Bibliothek. Dort wurde er dem Pater Benno zugeteilt. Hier holte er die Bücher von den höchsten Regalen, fegte die Spinnweben fort und machte sich in jeder Weise nützlich. Pater Benno war schon alt und sah schon schlecht und da er Zeit seines Lebens viele Bücher abgeschrieben hatte, mußte ihm Bruder Klaus wegen seiner schlechten Augen helfen. So lernte Klaus das Lesen und Schreiben und bald merkten alle, welche Talente noch in ihm schlummerten. Niemand im Kloster konnte die Initialien so schön verzieren und mit schönen Schnörkeln versehen wie er, wenn ein Buch abzuschreiben war. Bruder Klaus war ein begabter Zeichner und Schreiber, seine zierliche Schrift gefiel allen und seine Buchstaben waren ausgerichtet wie die Soldaten. Pater Benno hatte ihm auch gezeigt, wie man Farben reibt, Federn schneidet, Mennige mischt, Tusche anreibt - kurz alles, was er zum Abschreiben der heiligen Bücher eben braucht. So wäre alles in schönster Ordnung gewesen, wenn sich da nicht ein kleiner Mißton eingeschlichen hätte.

Bruder Klaus hatte nämlich in der Bibliothek ganz oben ein kleines, in Schweinsleder gebundenes Büchlein aufgestöbert, das von den alten griechischen Göttern und Helden handelte. Der Abt sah das nicht gerne, daß Klaus sich mit solch heidnischem Aberglauben befaßte, statt in heiligen Büchern zu lesen und verbot ihm kurzerhand dieses Buch. Aber die Versuchung war zu groß. Es gab da auch so schöne Zeichnungen, die Schrift war so zierlich und vor allem die Geschichten so spannend. Da hatte er vom Gott Zeus gelesen, der eigentlich ein rechter Tunichtgut war und seiner Gattin Hera allerlei Grund zur Eifersucht gab. Oder gar die Abenteuer des Helden Odysseus und vieles mehr, von dem er sich nicht trennen konnte.

Kloster, Friedrich Fischer

Kloster, Ölgemälde von Friedrich Fischer

Gerade in dieser Zeit kam ein Brief vom Kloster der heiligen Hemma mit einer Bitte. Man hätte gerne die Rezepte verschiedener Farben und Vergoldungen, Zubereitung haltbarer Farbmischungen, auch, wie man aus dem teuren Lapislazuli das herrliche Blau machen kann. Der Abt fand, dies sei die beste Gelegenheit, Bruder Klaus auf andere Gedanken zu bringen. Da dieser hier Fachmann war, schickte er ihn mit einem versiegelten Brief ins Kloster der hl. Hemma. Darin waren viele Grüße und Segenswünsche und die Anweisung, man möge nur den Bruder Klaus für alles um Rat fragen und sich von ihm alles zeigen zu lassen. Er bekam etwas Geld, reichlich Proviant, man beschrieb ihm genau den Weg über die Berge und schickte ihn auf die Reise. Freilich ahnte der Abt nicht, daß Klaus gerade dieses Buch heimlich mitgenommen hatte. Es war genau jenes Buch, das unser Bruder eben mit Gewissensbissen in das Wasser des Karsees geworfen hatte. So war Klaus damit auch jede Versuchung los, als das Buch nun für immer versank.

So schnell er konnte, verließ Klaus die Stätte dieser unbegreiflichen Überraschung, würgte den letzten Bissen hinunter und eilte so rasch er konnte fort. Bald hatte er das große Schneefeld erreicht, das zur Paßhöhe führte. Nun erschien er nur mehr wie ein kleiner dunkler Punkt, der hinter einem Felsen verschwand. Damit war Bruder Klaus auch aus unserer Geschichte hinausgewandert, denn in dieser Geschichte brauchen wir ihn nicht mehr.

Oh, hätte doch Bruder Klaus das Buch nie mitgenommen und in den Karsee geworfen! Hätte er es in die Ache geworfen, sie hätte es in ihrem Lauf mit den Steinen zu Staub zerrieben. Denn so nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Kein anderer war es als Fürst Gugeluck, der Klaus mit einem Schwall Wasser zu seinem Spaß übergossen hatte. Er war der Herr aller Gewässer im Umkreis von zwei Tagesreisen. Seinen Namen hatte er davon bekommen, daß er immer, wenn er in den See tauchte, etwas Luft ausblies, was dann beim Aufsteigen der Blasen wie "gluck, gluck, gugeluck" klang. Am Grunde des Sees hatte er seinen Palast. Die Mauern waren aus Bergkristall und Glimmer, der Fußboden mit Perlmutt ausgelegt. Sein Thron stand in einer Grotte aus Tropfsteinen und war mit vergoldeten Muscheln, Granatsteinen und Bergkristallen verziert. Ein Dach gab es nicht, denn hier konnte es weder regnen noch schneien. Da es in der Tiefe schon etwas dunkel war, zogen Fische, die in Farben wie Lampions leuchteten, langsam durch alle Grotten und verbreiteten ihren milden Schein. Kostbare Vasen standen auf Marmortischen, da und dort gab es goldene Schüsseln und Teller, viele kostbare Geräte, denn Gugeluck war nicht arm. Er selbst war dick, klein und glatzköpfig, nur mit einem derben Schnurrbart versehen, hatte hervortretende schwarze Augen, sodaß er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Seehund hatte. Seine Arme und Beine waren kurz, die Hände und Füße jedoch verhältnismäßig groß und mit Schwimmhäuten versehen. Im Wasser konnte er sich schnell bewegen, während er am Land recht unbeholfen watschelte. Eine Schar Salamander stand stets bereit, ihn zu bedienen.

Er mußte noch herzlich lachen über den Spaß, den er sich mit dem Bruder Klaus geleistet hatte, dann ließ sich eine fette Forelle servieren, als er wieder am Grund des Sees angelangt war. Gerade als er den ersten Bissen zum Munde führen wollte, glitt jenes Buch vor seinen Füßen zu Boden. Neugierig öffnete er es und staunte über die herrlichen Bilder, die fast auf jeder Seite zu sehen waren. Dazwischen gab es viel Schrift, doch Gugeluck konnte nicht lesen. Sogleich beschloß er, seinem Freund, dem Fürsten Granvicus von seinem Spaß zu erzählen und ihm auch das Buch zu zeigen.

Granvicus war Herr über alle Berge und Gletscher, hatte hoch oben seinen Palast in weitverzweigten Grotten und war ebenso reich. In seinem Palast gab es große Hallen aus Tropfsteinen, die durch Gänge mit kleineren Grotten verbunden waren. Überall glitzerten Smaragde und Granaten und die schönsten Bergkristalle standen in den Nischen. Manche Hallen waren von Eismassen erfüllt, die aussahen wie gefrorene Wasserfälle. Da gab es geschnitzte Truhen, auf denen goldene Schüsseln und Vasen standen. Von den Decken hingen herrlich geschmiedete Kronleuchter. Der Ausgang des Palastes war ein kleines vergoldetes Portal an einer steilen Felswand. Von da führte ein steiler Abhang zum Karsee hinunter.

Auch im schönsten Palast kann es manchmal langweilig werden, wenn es keine Abwechslung gibt. Darum pflegten sich die Freunde oft zu treffen. Freilich wollte Granvicus niemals in die eiskalten Gewässer des Gugeluck hinuntersteigen. So blieb nichts anderes übrig, als daß Granvicus seine Knechte mit einer Sänfte hinunterschickte, die dann Gugeluck mühsam auf gewundenen Pfaden hinaufschleppten. Dann hatten sie ihn wieder hinunterzutragen, woran sie wohl keine Freude hatten.

An diesem Tage konnte es Gugeluck nicht erwarten, seinem Freunde von seinem Scherz zu erzählen und ihm auch das Büchlein zu zeigen. Sie sollten sich das Buch gemeinsam ansehen und würden sicher ihre Freude daran haben. Gugeluck saß also auf einem Felsen und sah geduldig und unverdrossen zum Tor seines Freundes hinauf, ob sich nicht endlich jemand zeigte. Seine Geduld wurde aber auf eine harte Probe gestellt. Als sich endlich ein Knecht zeigte, um vor dem Tor zu kehren, rief Gugeluck hinauf, man möge ihn holen. Doch der Knecht war anscheinend schwerhörig, denn er tat nichts dergleichen. Endlich trat auch Granvicus heraus, um zu sehen, wie das Wetter war. Da hatte Gugeluck mit seinen Rufen endlich Erfolg und bald schaukelte die Sänfte mit ihm den Berg hinauf, bis ihn die Knechte vor dem Tore ihres Herrn abstellten. Er trat ein, setzte sich an den Tisch, wo Granvicus schon einen Humpen Wein bereitgestellt hatte, sie begrüßten sich herzlich und Gugeluck, begann sein Abenteuer zu erzählen. Dabei mußte er so lachen, daß ihm die Tränen über seine feisten Wangen liefen. Darauf legte er das Buch auf den Tisch und die beiden Fürsten betrachteten es voll Eifer, staunten über die schönen Zeichnungen und über die zierliche Schrift, die sie leider nicht lesen konnten.

Über ihnen hing ein eisernen Kronleuchter an drei Ketten, die an der Decke befestigt waren und verbreitete sein mildes Licht. Hin und wieder machten sie einen Schluck aus dem Humpen und wollten zu gerne wissen, was in dem Buch geschrieben war. Granvicus holte aus einer Nebenkammer seine etwas verstaubte, aber noch mehr verstimmte Harfe und begann, Gugeluck seine Arien vorzusingen. So stolz auch Granvicus auf seinen Gesang war - denn er hielt sich für einen großen Sänger - so wenig war Gugeluck erfreut, wenn das Besuchsprogramm mit dem Gesang begann. Die Harfe war verstimmt und der Gesang mehr laut als schön. Aber Gugeluck zeigte gute Miene zum bösen Spiel - um seinen Freund nicht zu kränken - und dachte bei sich, der zweifelhafte Genuß sei eine Art Eintrittspreis für eine abwechslungsreiche Stunde. Sie taten wieder einen kräftigen Schluck aus dem Humpen und da kam ihnen eine gute Idee: Sie beschlossen, die Hexe Lusinde einzuladen, denn sie wußten - Lusinde konnte lesen!

Lusinde hatte eine Hütte eine Stunde weiter unten und sie erinnerten sich, Lusinde vor vielen Jahren, als sie noch jünger waren, besucht zu haben. Damals war sie recht hübsch und unterhaltsam, nun war sie alt und grauhaarig, doch ihre lebhaften schwarzen Augen hatten noch immer etwas von ihrer Jugend bewahrt. Schon am nächsten Morgen schickte Granvicus zwei Knechte zu Lusinde, um sie einzuladen. Als sie in ihr Haus eintraten, staunten sie, was es da alles zu sehen gab! Über der Feuerstelle hing ein Kessel an Ketten, in dem eine geheimnisvolle Brühe brodelte. An der Wand waren Regale mit Tollkirschenkompott in Gläsern, kleine Tiegel mit Hittrach, andere mit getrockneter Krötenhaut, wieder andere mit Viperzähnen, da gab es Schachteln mit stark riechenden Kräutern, Dosen mit Bilsenkraut und Aronstab, wieder kleine Tiegel mit geheimnisvollen Pulvern. Von der Decke hingen Spinnweben, dazwischen baumelten Fledermäuse mit den Köpfchen nach unten. Auf einer Stange saßen zwei Raben. Lusinde erklärte ihnen, diese seien ihre Postbeamten. Immer, wenn sie einer Hexe in der Nachbarschaft eine Nachricht senden wollte, schickte sie in lauen Sommernächten eine Fledermaus damit ab. In der rauheren Jahreszeit besorgten die Raben die Post. Eine kleine Nebenkammer war sozusagen Garage oder Hangar, je nachdem, wie man es nennen will. Da es damals weder Eisenbahn noch Post oder Flugzeug gab, mußten die Hexen ihre Reisen mit dem Besen durch die Luft machen. Dazu hatte sie die verschiedensten Besen fein säuberlich nebeneinander aufgestellt. Da waren einfache Birkenbesen mit Haselnußstielen, manche schon etwas abgenützt, daneben wieder ein sehr schöner Reisbesen mit poliertem Stiel. Den benützte sie stets für die alljährliche Hauptversammlung der Hexen auf dem "Brocken" als ihr Flugzeug, denn sie wußte, was sie ihrem Ansehen schuldig war. Die Knechte kamen aus dem Staunen nicht heraus, es gab da noch soviel zu sehen, doch sie sollten bald zurückkehren, denn ihr Herr wartete schon so sehr auf Lusinde.

Von da ab war Lusinde fast täglich Gast bei den zwei Fürsten. Sie wurde reichlich bewirtet und die beiden freuten sich wie die Kinder, wenn Lusinde ihnen aus dem Büchlein vorlas. Dazu betrachteten sie aufmerksam die Bilder, die das Geschriebene erst richtig ergänzten. Als die Hexe alles vorgelesen hatte, stellte sich heraus, daß die beiden Fürsten von zwei Figuren des Büchleins besonders begeistert waren. Die Erzählung von Orpheus dem Sänger, der so schön singen konnte, daß ihm die wilden Bestien wie zahme Hündlein zu Füßen lagen (was auch auf einem Bild zu sehen war), machte einen tiefen Eindruck auf Granvicus. Er warf sich stolz in die Brust und meinte, daß sein Gesang den des Orpheus noch bei weitem übertreffen würde. Sogleich ließ er sich seine Harfe bringen und begann zu singen, oder, was er darunter verstand. Die Knechte zogen sich in die hintersten Kammern zurück und hielten sich die Ohren zu. Die Töne hallten schaurig durch die dunklen Hallen des Palastes, daß selbst Gugeluck, der an das eisige Wasser des Karsees gewohnt war, die Gänsehaut über den Rücken lief.

Ihm, Gugeluck, hatte ein Bild so gefallen, daß er darüber den schaurigen Gesang fast vergaß. Es war das Bild des Meeresgottes Poseidon. Das Bild zeigte Poseidon, mit Lorbeer bekränzt, auf dem Bug eines Schiffes thronend. In der Hand hielt er, als Zeichen seiner Würde, einen Dreizack. So war es in dem Buch genau beschrieben. Was er, Gugeluck, nicht auch ein Herr der Gewässer in den Bergen? Bis jetzt hatte er noch kein Zeichen seiner Würde. Also gebührte ihm mindestens auch ein Dreizack! Er mußte nur einen Dreizack haben, koste es was es wolle. So lobte er den Gesang des Granvicus über die Maßen und hatte ihn bald überredet, einen Knecht ins Tal zu einem Schmied zu schicken, mit dem Auftrag, einen Dreizack nach seinen Angaben anfertigen zu lassen. Er sollte so aussehen, wie auf dem Bild, ein Stiel sollte auch daran sein. An den Enden sollten auch Widerhaken sein. Er zeigte dem Knecht auch das Bild, ermahnte ihn, sich das Aussehen genau zu merken, um den Auftrag gut zu erfüllen. Freilich war der Knecht nicht erfreut über diesen Wunsch, aber sein Herr gebot ihm, sich sogleich auf den Weg zu machen. Ins Tal zum Schmied waren es sechs Stunden und hinauf noch länger. So machte er sich brummend auf den Weg. Als der Knecht ins Tal zum Schmied kam, stellten sich gar unerwartete Hindernisse in den Weg. Dem Schmied waren die Kohlen ausgegangen. Der Köhler hatte auch keinen Vorrat, seinen Meiler hatte er eben angesteckt und da würde es noch Wochen dauern, bis es wieder Kohlen gäbe. Das hatte der Schmied benutzt, seinen undichten Blasebalg zum Sattler zu tragen, um ihn neu beledern zu lassen. Außerdem habe er noch nie ein so merkwürdiges Ding gemacht und er wisse auch nicht, wozu es gut sein sollte. Aber eine Bestellung eines ähnlichen Dinges sei da. Der Auftraggeber habe offenbar vergessen, das Ding abzuholen. Es sei aber kein Dreizack, sondern habe vier Zacken, allerdings wären die Zacken nicht gerade, sondern leicht gebogen. Mit etwas anderem könne er zur Zeit nicht dienen. Widerhaken wären leider auch nicht dran. Dieses Ding könne er gleich mitnehmen, ansonsten müsse er in vier Wochen wiederkommen. Was sollte der Knecht also tun?

Voralpen, Friedrich Fischer

Voralpen, Ölgemälde von Friedrich Fischer

Kurzentschlossen ließ er einen Stiel dran machen, bezahlte alles und machte sich auf den Heimweg. Es war zu arg, nochmals den weiten Weg ins Tal und zurück zu machen! Unterwegs würde ihm sicher etwas einfallen, um den dummen Gugeluck zu beruhigen. Bloß nicht nochmals den weiten Weg, lieber Prügel von seinem Herrn bekommen, als diesen weiten beschwerlichen Weg nochmals zu tun! So kam er wieder zurück, wo ihn Gugeluck schon voll Sehnsucht erwartete. Als dieser seinen Vierzack, der eigentlich ein Dreizack sein sollte, sah, machte er ein enttäuschtes Gesicht. Eine Zacke zuviel und die Widerhaken fehlten auch! Da erklärte ihm der Knecht, daß die Werkstätte des Schmiedes für Widerhaken nicht eingerichtet sei und was die vierte Zacke betreffe, sei es doch ganz klar, daß Gugeluck doch viel was besseres sei als der lächerliche Poseidon und ihm daher mindestens eine Zacke mehr gebühre. Dieses Argument überzeugte schließlich Gugeluck und der Knecht kam ohne Prügel davon. Gugeluck begann, sich an das Zeichen seiner Würde zu gewöhnen.

Nun erschien es den beiden Fürsten, es sei der richtige Zeitpunkt gekommen, ein großes Fest zu feiern. In der großen Halle ließ Granvicus zwanzig Kerzen auf den großen eisernen Kronleuchter setzen, mehrere Humpen Wein servieren, und nahm dann seine Harfe, um mit seinen furchtbaren Arien das Fest zu eröffnen. Als er endlich eine Pause machte, um einen kräftigen Schluck zu machen, äußerte Gugeluck eine Idee, die ihm so großartig erschien, daß er sich selbst bewunderte. "Granvicus", rief er, "wir werden uns in Zukunft anders nennen. Ich sage zu dir Orpheus und du sagst zu mir Poseidon! Ist das nicht wunderbar?" Der Gedanke gefiel auch Granvicus. Nun begannen sie, immer lauter dasselbe zu grölen: "Ich bin Orpheus und du bist Poseidon!". Dann sangen sie zur Abwechslung: "Du bist Poseidon und ich bin Orpheus!". Inzwischen sprachen sie dem Wein auch kräftig zu und begannen, mit den Armen wild den Takt zu ihrem Gesang zu schlagen. Gugeluck hielt in der Linken den Vierzack und stieß ihn immer kräftiger auf den Boden und ließ die Rechte mitschwingen. Bei dem wilden Fuchteln passierte ihm ein Mißgeschick. Er fegte den schweren Humpen vom Tisch. Dieser fiel ihm auf die Hinterflossen, worauf er mit jämmerlichem Gequieke aufsprang. Unglücklicherweise geriet er dabei mit einer Zacke seines Vierzacks in die Kette des Kronleuchters. Als er dann am Schaft anzog, rasselte der Kronleuchter mit lautem Getöse herunter und fiel ausgerechnet auf den Kopf des Granvicus. Das heiße Wachs der Kerzen, die großteils verlöscht waren, rann ihm über die Nase und die Wangen und von seinem Haupte, wo sich eine große Beule bildete, rieselte ihm das Blut in die Augen. Der Ring des Kronleuchters glitt an ihm herunter, bis die Ketten, die sich an seine Schultern legten, einen weiteren Fall hinderten. Nun hatte er den Kronleuchter wie einen eisernen Ring um den Bauch. Doch das schlimmste war, daß noch zwei Kerzen brannten, die sein Hemd in Brand steckten. Granvicus stieß ein fürchterliches Schmerzgebrüll aus. Dadurch erschreckt eilten die Knechte herbei und löschten geistesgegenwärtig den Brand mit einem Humpen Weines.

Nun war es fast finster in der Halle, nur das Kaminfeuer erhellte die gespenstige Lage. Gugeluck, der sehr erschrocken war, brachte zunächst kein Wort heraus. Umso mehr schimpfte Granvicus. Die fürchterlichsten Beleidigungen mischten sich in sein Schmerzgebrüll. "Blöder Seehund, giftiger Salamander, aufgeblasener Frosch" und dergleichen war noch das Harmloseste im Vergleich zu dem, was nun kam: "Du eingebildeter Poseidon mit deiner Mistgabel!". Alles hätte Gugeluck verziehen, aber die Mistgabel traf ihn wie ein Dolchstoß ins Herz. Nun bekam auch Granvicus allerhand zu hören: "Du lächerlicher Orpheus mit deinem schauerlichen Gebrüll! Heisere Wölfe heulen tausendmal schöner als du! Eine quietschende Türangel ist der reinste Nachtigallengesang gegen dein Geheul! Selbst deine Knechte verziehen sich bei deinem Gebrüll und Gegrunze! Auch deine verstimmte Harfe ist noch ein Ohrenschmaus gegen dein Jaulen!". Das war auch Granvicus zuviel: "Was habe ich mir da für einen Giftmolch ins Haus genommen! Jedesmal, wenn ich meine Hand in deine kalten Flossen lege, läuft mir die Gänsehaut über den Rücken! Ihr Knechte werft das Scheusal hinaus! Hinaus! Hinaus! Hinaus!".

Das ließen sich die Knechte nicht zweimal sagen - vielleicht hatte nun die Schlepperei mit der Sänfte ein Ende . Sie faßten Gugeluck zu zweit bei den Vorder- und Hinterflossen, schwangen ihn ein paarmal hin und her, schubsten ihn dann über den Abgrund und ließen ihn den steilen Hang hinunterkollern. Ganz zerschunden fand er Halt an einem Latschenbusch. Seine Fettschicht hatte ihn zum Glück vor dem Ärgsten bewahrt. Rasch wollte er aufstehen, um in den Karsee zu springen, da stellte sich ein weiteres Hindernis ein. "Da, deine Mistgabel", riefen ihm die Knechte des Granvicus nach und warfen ihm den Vierzack nach. Unglücklicherweise bohrte sich dieser mit zwei Zacken durch die Schwimmhaut der Hinterflossen und nagelte ihn am Boden fest. Gugeluck konnte nicht so rasch fliehen, während die Knechte Steine aufhoben, um ihm noch letzte, aber unfreundliche Grüße nachzusenden. In seiner Todesangst und mit großen Wehklagen zog er seinen Vierzack aus dem Boden und stürzte sich in den Karsee. Ein Stein traf ihn noch an der Schulter, während er ins Wasser platschte. Sein letzter Schrei war schon unter Wasser und stieg mit einigen Luftblasen an die Oberfläche. Schnell tauchte er auf den Grund und ließ sich auf seine Wunden Forellenfett auflegen und mit Algen umwickeln. Als er die Löcher in seiner Schwimmhaut sah, dachte er, was für ein Glück es doch war, daß sein Vierzack keine Widerhaken hatte! Von nun an sann er nur mehr nach Rache.

Die Zeit erwies sich als gute Medizin, kein Arzt verschreibt sie, kein Apotheker verkauft sie, sie braucht keine Tiegel und Pillen und heilt doch alle Wunden, auch die Löcher in den Schwimmhäuten des Gugeluck und die Beulen auf dem Haupte des Granvicus.

Nach den aufregenden Ereignissen griff Granvicus zur Harfe und sang für sich allein. Es war wieder ruhiger geworden - um nicht zu sagen - langweilig. Nun kamen ihm auch einige Zweifel, ob seine Stimme wirklich so schön sei, wie er glaubte. Er fragte seine Knechte um ihre Meinung. Sie sagten, es stünde ihnen nicht zu, über ihren Herrn ein Urteil abzugeben. Sicher würde er selber am besten wissen, wie schön er singe. Da dachte er an Lusinde, denn sie war eine kluge Frau. Er lud sie also ein und bat sie um ihre Meinung über seinen Gesang. Sie meinte, mit Gesang habe sie sich nicht weiter befaßt, doch glaube sie, es gäbe eine hohe und eine tiefe Stimmlage. Wenn er, Granvicus, das in seiner hohen Stimmlage hätte, was ihm in der tiefen fehle, wäre er gewiß ein recht passabler Sänger. Dieses Urteil war für Granvicus ein wenig verwirrend und er dachte lange nach, wie es wohl zu verstehen sei. Dann fragte er Lusinde, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, seine Stimme noch zu verbessern. Sie sei doch eine kluge Frau, wisse in vielem Rat, könne sogar lesen und sei in mancherlei Zauberei bewandert. Er würde sie gewiß auch reichlich belohnen. Lusinde erklärte ihm, es gäbe nur ein einziges ganz sicheres Mittel, das sicher helfen würde: er müßte hundert Nachtigallenzungen mit rohem Ei vermischen und diese Mischung essen. Die Nachtigallen seien die besten Sänger und da würde der Zauber ihrer Stimmen auf ihn übergehen.

Sogleich befahl Granvicus seinen Knechten, einen großen Käfig zu bauen, überall in den Sträuchern und Büschen Leimruten anzubringen, jeden Tag nachzusehen und die gefangenen Nachtigallen in den Käfig zu sperren. Die Knechte waren wenig erfreut darüber, denn sie mußten nun jeden Tag in das Tal hinuntersteigen, denn hier oben gab es keine Nachtigallen. Das nahm nun viel Zeit in Anspruch, darum lud Granvicus Lusinde ein. Er fragte sie über dies und das, wie lange sie schon hier sei, wie sie hergekommen sei und was sie alles erlebt habe. Schließlich bat er sie, die ganze Geschichte von ihrem Leben zu erzählen. Die war nun so spannend und abwechslungsreich, daß Granvicus aus dem Staunen nicht herauskam. Ein Abend reichte da gar nicht, um alles zu erzählen, was Lusinde schon erlebt hatte. Lassen wir also die Knechte eifrig Nachtigallen fangen und lassen wir inzwischen die Geschichte Lusindens an uns vorbeiziehen.

Lusinde

Lusinde war nicht immer die Hexe, als die wir sie kennen. Dummheit, Aberglaube, Gleichgültigkeit und die Grausamkeit ihrer Mitmenschen hatten sie zu dem gemacht, was sie jetzt war. Ihr Großvater hieß Cosimo, kam aus dem Wellischen und war seinerzeit über die Birnlücke eingewandert. Er war Hersteller von Sieben, Gattern oder Gatzel (wie sie genannt wurden) und so nannte man ihn Cosima den Gatzelmacher, ein Wart, das sich etwas abgeändert, noch lange halten sollte. Er hatte sich in Dachswiesen niedergelassen, wo er für die Bauern die Gatzel machte. Von ihm hatte Lusinde die schwarzen Augen und schwarzen Haare geerbt, wodurch sie in dieser Gegend mit lauter blonden und rothaarigen Mädchen auffiel. Sie lebte mit ihrer Mutter in einem kleinen Häuschen recht bescheiden. Ihr Vater war vor Jahren beim Holzfällen verunglückt.

Ihr Bruder, Adeptus, war um fünf Jahre älter als sie und hatte sich um einen Dienst beim Erzbischof von Salzbeuren beworben, wo er schon seit Jahren bei Magister Antimonius hilfreich tätig war. In jener Zeit feierte der Erzbischof viele teure Feste, errichtete viele herrliche Bauten und hatte immer leere Kassen, denn die ausgeklügelten heutigen Methoden der Steuereintreibung waren damals noch nicht bekannt. So hielt er sich, wie alle großen Fürsten, einen Alchimisten und das war Magister Antimonius. Der hatte nur eine Aufgabe - Gold herzustellen. Dazu war es zunächst nötig, den Stein der Weisen zu finden, denn alles, was man damit berührte, sollte sogleich zu Gold werden. Wer also diesen Stein hatte, war alle Sorgen los. Eine Alchimistenküche wurde eingerichtet und darin kochte und mixte Magister Antimonius allerlei Substanzen in der Hoffnung, den Stein der Weisen zu finden. Doch der Weg zum Stein der Weisen blieb so verschlossen wie der Weg zum Paradiese. Nun war Magister Antimonius schon sehr alt. Die Ältesten erinnerten sich, daß der Meister früher Antonius hieß. Niemand wußte, wie er zu seinem Namen Antimonius gekommen war, aber alle wußten, wer Magister Antimonius war. Er hatte schon manches Leid erfahren müssen, wenn sich aus der Retorte der rote Adler erhob und mit lautem Knall und Rauch die Retorte in tausend Stücke zerbarst, wobei der Meister zwei Finger der linken Hand einbüßte. Ein anderes Mal, als es wieder Feuer, Rauch und Knall gab und der rote Adler aus der Retorte sprang, trafen ihn die Scherben so unglücklich, daß er das linke Auge verlor. Immer waren sein Gesicht und die Hände mit Narben übersät. Sein letztes Auge ließ schon nach, da mußte Adeptus einspringen. Er mußte lesen lernen, um seinem Meister die Rezepte aus den dicken Büchern vorlesen zu können. Oft mußte Adeptus dies und das besorgen, manches in schweren Broncemörsern zerstoßen, neue Mischungen vorbereiten, Retorten reinigen und alle Bücher und Laden mit Schildchen kennzeichnen. Bald wußte Adeptus in der Alchimistenküche besser Bescheid als sein Meister. Wenn es ihm auch nicht gelang, den Stein der Weisen zu finden, so ging doch manches Nützliche und Brauchbare aus der Alchimistenküche hervor. So gelang es, Gläser schön zu färben, Tontöpfe schön zu glasieren und Adeptus fand sogar eine Mischung, die ihm später einmal sehr nützlich werden sollte.

Er hatte ein ruhiges und angenehmes Leben bei Magister Antimonius, bis ihn, wie aus heiterem Himmel, eine furchtbare Nachricht erreichte. Seine Schwester Lusinde sollte in Dachswiesen als Hexe verbrannt werden! In Dachswiesen, wo sie schon seit Jahren wohnte, fing es recht harmlos an. Lusinde war ein sehr hübsches, heiratsfähiges Mädchen geworden. Im Dorf lebte auch Großmauljochen, der wegen seines argen Mundwerkes so genannt wurde. Er sollte nach Wunsch seiner Eltern Cordula heiraten, doch Lusinde gefiel ihm viel besser. Lusinde aber wußte, daß Jochen im Trinken, Wirtshaussitzen und Sprüchemachen viel tüchtiger war als bei der Arbeit, darum lehnte sie seine Werbung ab. Von da ab haßte sie der stolze Jochen.

In dieser Zeit traf ein unerklärliches Unglück das Dorf. Eines Tages lagen fünf Kühe, die tags zuvor noch gesund und brav ihre Milch gegeben hatten, tot im Stall. Am nächsten Tag ging ein Gewitter nieder, wie es die Leute des Ortes seit Menschengedenken nicht erlebt hatten, und am Abend brannten zwei Häuser nieder. Dann kam ein Hochwasser, sodaß die Möbel der armen Menschen in den Stuben herumschwammen. Von den Hängen wälzten sich Muren und verwüsteten das Dorf. Verzweiflung erfaßte alle. "Es ist wie verhext", sagte da einer. "Ja", meinte Jochen, "wenn es verhext ist, muß es auch eine Hexe geben. Die ist an allem Schuld - und die Hexe ist sicher Lusinde, denn wieso ist gerade ihr Haus verschont geblieben?". Das Haus der Lusinde stand zufällig abseits auf einer Anhöhe, daß die Mure leicht daran vorbeiziehen konnte. Doch das Wort Hexe ging im Dorf herum und auch Cordula tat das ihre dazu, bis alle Lusinde für eine Hexe hielten. Eines Morgens lagen wieder zwei Kühe tot im Stall und niemand fand eine Erklärung dafür, außer es gab hier eine Hexe. Wütend holten sie Lusinde aus ihrem Haus, schlugen sie, spuckten sie an, rissen an den Haaren und brachten sie mit lautem Schimpfen und Johlen in den Turm. Dann ließen sie den Richter und Folterknechte kommen. Für Lusinde sah es übel aus. Ihr zartes Wesen war den grausamen Methoden, mit denen man ein Geständnis erpressen wollte, nicht gewachsen. Lieber wollte sie alles gestehen, was man nur wollte und sterben, als diese unmenschlichen Qualen ertragen. Sie wurde zum Verbrennen auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Eben diese Nachricht hatte den ahnungslosen Adeptus erreicht.

Sogleich beschloß Adeptus, nach Dachswiesen zu reiten, vielleicht gab es eine Möglichkeit, seine Schwester zu retten. Auch der alte Magister Antimonius war entsetzt, hatte viel Mitleid mit Adeptus und seiner Schwester und dachte nach, wie er ihnen helfen könnte. Adeptus brauchte ein Pferd. Also ging Antimonius zum Erzbischof und erklärte ihm, er bräuchte ein besonderes Mineral, das nur in den Bergen zu finden sei. Adeptus müsse es holen und dazu brauche er dringend ein Pferd. Der Erzbischof versprach ihm ein Pferd für den nächsten Tag. So hatte Adeptus die ganze Nacht Zeit, um einen Plan zur Rettung seiner Schwester auszudenken. Zunächst tränkte er einen Sack mit Bienenwachs, um ihn wasserdicht zu machen und füllte ihn mit einem besonderen Mittel. Dann nahm er ein Büschel Stroh, eine Wegzehrung und sein Erspartes, stieg auf das Pferd und machte sich zeitlich morgens auf den Weg. Er ritt so schnell er konnte nach Dachswiesen. Dort fand er seine verzweifelte Mutter in Tränen aufgelöst. Nun tröstete er sie so gut er konnte, machte ihr Hoffnung, er würde alles tun, um Lusinde zu retten, doch müsse sie sich damit abfinden, Lusinde in ihrem Leben nicht mehr zu sehen. Er fütterte sein Pferd tüchtig, wartete die Mitternacht ab und schlich leise zum Turm, in dem Lusinde gefangen war. "Lusinde", rief er, "ich bin es, Adeptus, dein Bruder." Als Lusinde die Stimme ihres Bruders hörte, fing sie laut zu weinen an. "Ich will dich retten," sagte Adeptus "nur mußt du alles tun, was ich dir sage. Kannst du dich im Turm irgendwo verbergen, vielleicht hinter einer Stiege oder hinter einem Mauervorsprung?" "Ja, hinter der Stiege ist eine Höhle" "Dann kriech darunter und decke dich mit einem Bündel Stroh zu!" sagte Adeptus "und warte, bis ich dich rufe".

Adeptus band das Pferd hinter dem Turm an einen Baum, nahm den Leinensack und das Stroh und ging zu dem schweren Eichentor des Turmes. Dort schob er den Sack so gut er konnte darüber, schlug Feuer, entzündete das Stroh und lief so schnell er konnte hinter den Turm. Hier faßte er sein Pferd fest am Zügel und wartete, was nun kommen würde. Es dauerte nicht lange, da hatte das Feuer den Leinensack erreicht. Plötzlich gab es einen Feuerschein wie von einem Blitz und einen gewaltigen Donner, daß alle Häuser im Dorf erbebten. Das Pferd wollte sich losreißen vor Schreck, doch Adeptus hielt es fest und beruhigte es. Dann ging er um den Turm herum zum Tor. "Lusinde, lebst du?" "Ja", rief sie unter Husten und Keuchen, denn der Turm war mit beißendem Rauch erfüllt. Das schwere Tor war unten etwas aufgerissen. "Komm schnell, Lusinde, kannst du unten durchkriechen?" Das Loch war gerade groß genug, daß sich Lusinde mit Hilfe ihres Bruders durchzwängen konnte, rasch hob er Lusinde aufs Pferd, setzte sich dahinter und ritt eilends davon.

Die Leute in Dachswiesen waren durch den gewaltigen Donner aus dem Schlaf gebeutelt worden. Voll Angst zogen sie die Decken über die Ohren und keiner wagte es, aus dem Hause zu kommen. Erst am Morgen, als die Sonne schon hell schien, kamen die ersten heraus und fanden, daß sich eigentlich nichts geändert hatte. Doch als sie zum Turm kamen, schöpften sie Verdacht, holten schnell den Schlüssel und sperrten die Tür auf - Lusinde, die Hexe, war ausgeflogen! Ein penetranter Gestank nach Schwefel erfüllte den steinernen Käfig. Sie suchten sogleich die Umgebung ab und fanden den Abdruck eines Pferdehufes und den eines Menschenfußes. Nun schien alles klar. Der Teufel, der ja bekanntlich einen Menschen- und einen Pferdefuß hat, war hier gewesen und hatte Lusinde geholt. Mit Donnerknall war er mit ihr in die Hölle gefahren und hatte den Schwefelgestank hinterlassen. "Recht geschieht ihr," rief Cordula, "merkt euch das, ihr Mädchen! Wäre sie so fromm und tugendsam gewesen wie ich, wäre sie heute noch da. Ja, nehmt euch nur ein Beispiel an mir!" Der Scheiterhaufen, der für die Verbrennung Lusindens aufgerichtet war, stand nun fast ein wenig traurig und überflüssig da. Man beschloß, ihn der armen Gaiswabi zu schenken. Die war darüber hoch erfreut und begann sofort, die Scheiter heimzukarren. Für den kommenden Winter hatte sie keine Brennholzsorgen mehr.

Waldweg, Friedrich Fischer

Waldweg, Ölgemälde von Friedrich Fischer

Adeptus war die ganze Nacht flußabwärts geritten und erreichte beim Morgengrauen Lendbrücke. Von dort wandte er sich gegen Mittag in das Tal der Steinerache. Er stieg vom Pferd, nahm es beim Zügel und führte es den steilen Pfad aufwärts. Lusinde war so müde, daß sie fast eingeschlafen und vom Pferd gefallen wäre, wenn ihr Bruder nicht so auf sie geachtet hätte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie auf einem Felsen über der Ache ein einladendes Plätzchen fanden, das halbwegs eben war. Eine dicke Lärche gab Schatten und eine Quelle rieselte aus dem Felsen. Sie setzten sich nieder, um sich zu stärken. "Hier wird dich wohl niemand finden und du wirst Ruhe haben", meinte Adeptus "und hier will ich dir eine Hütte bauen." Noch am selben Tag ritt Adeptus ins Tal hinunter, holte ein paar Handwerker und brachte auch fünf Hühner und eine Milchziege mit. Er opferte seine Ersparnisse, um dafür eine einfache Hütte für Lusinde bauen zu lassen. Die Grundmauern wurden aus Steinen von der Ache gebaut, der obere Teil wurde aus Fichtenstämmen gemacht und das Dach mit breiten Bahnen aus Baumrinde abgedeckt, die sie mit Steinen beschwerten. Adeptus aber mußte bald zurück und dachte nach, wie er seiner Schwester einen Lebensunterhalt sichern könnte. Er hinterließ ihr ein Büchlein über Heilkräuter. Damit konnte sie manchen helfen und ein wenig verdienen. An den wenigen Abenden, wo er noch hier war, lehrte er sie noch das Lesen. Lusinde war klug und begriff sehr schnell. So kam der Tag des Abschiedes. Sie ahnten wohl beide, daß sie sich in diesem Leben nicht mehr sehen würden. Weinend winkte Lusinde ihrem Bruder nach, bis er hinter einer Wegbiegung verschwunden war. Damit war auch Adeptus aus unserer Geschichte herausgewandert, denn wir brauchen ihn in unserer Geschichte nicht mehr.

Traurig verbrachte Lusinde die erste Nacht allein in ihrer Hütte. Traurig, und doch wieder froh, denn ihr Leben hatte ihr Bruder gerettet. Am nächsten Tag trat sie morgens heraus, um aus der Quelle zu schöpfen. Wie erschrak sie, als sie auf der Hausbank eine wildfremde Frau sitzen sah. Sie meinte, man habe ihr Versteck gefunden und gekommen, um sie zu holen. War alles vergeblich? "Fürchte dich nicht, Lusinde," sagte die Frau "es geschieht dir nichts. Ich weiß, sie wollten dich verbrennen, aber du bist ihnen entwischt. Ha, ha, das war ein Spaß! Wenn ich an die dummen Gesichter der Dachswiesener denke, als sie das Nest leer fanden! Ich heiße übrigens Sorsiera und bin eine Hexe. Du gefällst mir, vielleicht wirst du eines Tages auch eine Hexe! Ja, so viele haben sie schon verbrannt und alle waren unschuldig! Noch nie war eine wahre Hexe darunter!" Da beruhigte Lusinde sich wieder, wurde zutraulich und bald plauderten sie wie alte Bekannte. "Wieso" fragte Lusinde "ist noch nie eine echte Hexe verbrannt worden?" "Weil Hexen eine Salbe haben, mit der wir uns einreiben. Diese Salbe schützt uns auch gegen das heißeste Feuer." So eine Salbe müßte man haben, dachte Lusinde. Nun erzählte Lusinde von ihrer Gefangenschaft und ihrer Todesangst im Turm, vom Haß des Jochen und der Cordula. "Deine Angst kann ich mir gut vorstellen", meinte Sorsiera "ich kenne auch eine Geschichte von einem Kind, das in deiner Lage war, doch ich habe es gerettet." "Erzähle," rief Lusinde "wie hast du das gemacht?"

"Damals lebte in Sillbach ein dreizehnjähriges Mädchen, das als Kleines von einem herabfallenden Kochtopf so verbrüht wurde, daß es eine Gesichtshälfte mit schweren Verbrennungen davontrug. Ihr halbes Gesicht verblieb mit dunkelroten Flecken, wodurch sie arg entstellt war. Nun gab es damals auch allerlei Unheil in Sillbach. Alle meinten, da müsse eine Hexe daran Schuld sein. Die Hexe konnte nur das Mädchen mit den roten Flecken sein. Sicher war das ein Zeichen des Teufels. Das Kind kam in den Schuldturm, wurde gefoltert und peinlich befragt, doch brachte es vor Angst kein Wort heraus. Dann wurde es als Hexe zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das arme Kind tat mir leid. Ich beschloß, es zu retten, den Sillbachern eine Lektion zu erteilen, die sie nicht so rasch vergessen sollten - schließlich wollte ich auch meinen Spaß daran haben. Ich setzte mich also auf meinen Besen, schwang mich in die Luft und zog einige Kreise über Sillbach. Bald hatte mich einer bemerkt. "Eine Hexe, eine Hexe," rief er, "da seht!". Ich zog also meine Kreise in der Luft weiter, bis alle in den Häusern waren. So ein Schauspiel hatte Sillbach noch nie gesehen. Dann täuschte ich einen Unfall vor und stürzte mitten auf dem Dorfplatz ab. Sofort war ich umringt. "Wir haben eine Hexe gefangen, eine Hexe samt ihrem Besen!" Dann sperrten sie mich zu dem Mädchen in den Turm. Dort beruhigte ich das Kind und sagte zu ihm, es werde bald frei sein. Bald kam der Richter, mich zu verhören. Ich erklärte, an allem Unheil die Schuld zu haben und würde auch nicht früher alles genau erzählen, bis man nicht das Kind freigelassen habe. Nun ließ man das Kind frei. Ich gestand alles, was sie nur wollten und erinnerte sie sogar an Unglücksfälle, die sie schon lange vergessen hatten und an denen nur ich allein die Schuld hätte. So wurde ich zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Ein riesiger Scheiterhaufen wurde errichtet, mitten drin ein Pfahl gesetzt, an dem sie mich mit meinem Besen anbanden. Unter großem Gejohle wurde der Scheiterhaufen angezündet und bald brannte er, daß es eine Freude war.

Lusinde erstaunte über die Erzählung Sorsieras. Wie konnte sie dem Scheiterhaufen entkommen? "Geduld," mahnte Sorsiera, "höre weiter. Als es so fröhlich brannte, rief ich laut: Hu, ist mir kalt, legt nach, ich erfriere sonst! Sie warfen Strohballen ins Feuer, daß die Flammen kirchturmhoch aufloderten. Doch je besser das Feuer brannte, desto mehr klagte ich über die schaurige Kälte. Die Sillbacher wußten nicht, was sie noch tun sollten, daß ich endlich verbrenne. Die Stricke, mit denen ich gebunden war, waren inzwischen verbrannt und ich war frei. Schnell setzte ich mich auf meinen Besen und ritt einige Male so wild durch das Feuer, daß die Funken weit auseinanderstoben. Ein Wind hatte sich erhoben, der in die Glut blies, daß die Scheiter in Weißglut aufloderten. Für den Wind war es ein Spaß, die glühenden Äste und Strohbündel durch die Luft zu wirbeln. Freilich war es weniger Spaß für die Sillbacher, als die brennenden Strohbüschel auf die Dächer herabfielen und das ganze Dorf in jener Nacht ein Raub der Flammen wurde. Die Häuser brannten bis auf die Grundmauern ab und die Sillbacher standen am nächsten Morgen vor den rauchgeschwärzten Resten ihrer Häuser. Sie hatten nun mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser soviel zu tun, daß sie gar nicht mehr an Hexen denken konnten."

Da wollte Lusinde nun auch eine Hexe werden. Sorsiera nahm sie in die Schule der Hexen und führte sie in die Zunft der Hexen ein. "Und nun," meinte Sorsiera, "sollen auch der Großmauljochen und seine liebe Cordula ihre Lektion bekommen, die sie sich merken werden!" Sorsiera setzte sich auf ihrem Besen, sagte, sie würde nach Dachswiesen fliegen, dort hätte sie was zu erledigen und dann werde sie Lusinde das Weitere berichten. Nach einigen Tagen kam sie wieder und erzählte, was inzwischen geschehen war.

In Dachswiesen kam eine Bandlkramerin, wie man damals sagte. Sie hatte einen Korb am Rücken, den sie am Dorfplatz absetzte. Dann nahm sie ein Brett heraus, daran war ein Riemen, den sie um den Nacken legte. Das Brett hatte sie vor dem Bauch und darauf breitete sie nun Dinge aus, die das Herz jeder Frau und jedes Mädchens höher schlagen lassen. Ein Bauchladen dekoriert mit bunten seidenen Bändern, herrlichen Schultertüchern, wunderschönen Schürzen, prächtigen Hauben, Knöpfen und Spangen und sonst allerlei. Im Nu war sie von Frauen und Mädchen des Dorfes umringt, die alles sehen und bestaunen wollten und auch dies und das kauften. Die Bandlkramerin war niemand anders als Sorsiera. Sie erzählte allerlei Neuigkeiten und auch die Mädchen berichteten von der Hexe Lusinde, wie sie der Teufel in jener Nacht aus dem Turm geholt hatte. Auf diesen Augenblick hatte Sorsiera gewartet. Sie tat sehr geheimnisvoll und sagte: "Oh, ihr leichtgläubigen Leute, meint ihr wirklich, daß der Teufel nichts anderes zu tun hat, als ausgerechnet eure Lusinde zu holen? Seid ihr aber dumm! Das war doch ganz, ganz anders! Ich könnte es euch ja sagen, weil ich es weiß, das würde aber einem in eurem Dorf sehr schaden!" Da waren die Frauen und Mädchen vor Neugier nicht mehr zu halten und wollten Sorsiera nicht mehr fortlassen, bis sie nicht alles genau wüßten.

Zum Schein ließ sich Sorsiera erweichen und verlangte, sie müßten alle hoch und heilig versprechen, ja niemanden auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu sagen, was sie ihnen nun unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilen werde. Im geheimen dachte Sorsiera, das sei doch die beste Art, ein Gerücht unter die Leute zu bringen. Sie nahm also ein paar Frauen mit ausgebreiteten Händen um die Schultern, drückte die Köpfe zusammen und flüsterte ihnen zu. "Ihr kennt doch das alte Sprichwort - alte Liebe rostet nicht." Ratlos fragten sie, was das mit der Hexe zu tun habe. "Viel, denn ihr wißt doch, daß Jochen Lusinde geliebt hat. Nur weil sie ihn abgewiesen hat, war er so böse auf sie, und als sie verbrannt werden sollte, tat es ihm leid und er wollte Lusinde retten. In jener Nacht war ein arges Gewitter - ihr erinnert euch an den furchtbaren Donner - das hat Jochen ausgenützt. Er dachte, da würde sich niemand herauswagen, nahm seine Axt, schlich zum Turm und bearbeitete das schwere Tor so lange, bis Lusinde entweichen konnte. Doch schwört mir, daß ihr niemandem etwas davon sagt, was ich euch berichtet habe. Leider kann ich euch nicht verhehlen, daß sich Hexen für ihre Gefangenschaft furchtbar rächen, wenn sie entkommen können. Dann bringen sie Unglück über das Dorf und das habt ihr dann dem Jochen zu verdanken, weil er sie befreit hat. Hexen pflegen in einem solchen Fall eine große Dürre und dann ein grauenhaftes Hagelwetter zu senden. Wenn es soweit ist, werdet ihr merken, daß ich euch die Wahrheit gesagt habe." Manche wollten noch etwas von Sorsiera kaufen, doch sie hatte plötzlich kein Interesse daran, packte ihre Sachen ein, nahm ihren Korb auf den Rücken, grüßte freundlich und ging fort.

Es kam so, wie es Sorsiera gesagt hatte. In den kommenden Wochen war eine solche Hitze, daß alle Brunnen austrockneten, die Wiesen verdorrten, die Quellen kein Wasser mehr gaben und die Tiere schier verhungerten. Es war zum verzweifeln. Die Angst war groß, denn darauf ging ein entsetzliches Hagelwetter nieder, wie es seit Menschengedenken nicht erlebt wurde. Die Schloßen standen handhoch auf den Wiesen, Fenster und Dachschindeln gingen in Trümmer und alle wußten nun, das war die Rache der Hexe und Jochen war schuld, weil er sie befreit hatte. Sie zogen vor Jochens Haus, holten ihn heraus und verprügelten ihn dermaßen, daß er fast gestorben wäre, wenn ihn seine Speckschicht nicht davor bewahrt hätte. Die große Axt war auch gleich gefunden. Da spuckten sie ihn an, rissen ihn am Bart, nahmen ihn in die Mitte und prügelten ihn hinaus in den gleichen Turm, in dem Lusinde gefangen war. Auch das Weinen und Flehen Cordulas war vergebens. Jochen mußte büßen!

Am nächsten Morgen war das Wetter harmlos und unschuldig wie eh und je. Die Sonne strahlte, das Eis zerging und die Erde trank gierig das Naß. Wie durch ein Wunder begrünten sich die Wiesen. Schon nach zwei Tagen stand das Futter auf den Wiesen kräftig und reich wie nie zuvor. Alle waren eifrig bemüht, den Segen einzubringen. Auf Jochen vergaßen sie ganz in ihrem Glück. Der wäre im Turm fast verhungert, wenn nicht Cordula dauernd versucht hätte, Jochen freizukriegen. Schließlich holten sie den Jochen doch noch heraus, um ihn zu verhören. Nun konnte er auch etwas zu seiner Verteidigung sagen. Da zeigte sich, daß man ihn doch nicht umsonst den Großmauljochen nannte, denn sein Mundwerk war seine Stärke. Seine Verteidigungsrede hätte sicher auch manchem Advokaten zur Ehre gereicht. "Ihr Narren," rief er, "daß ihr so dumm seid, einem dahergelaufenen Marktweib alles zu glauben und mich Unschuldigen fast totzuschlagen und dann noch halb verhungern zu lassen! Ihr wißt doch ganz genau, daß der Teufel Lusinde geholt hat. Habt ihr nicht die Spuren von einem Pferdefuß und einem Menschenfuß gesehen? Habt ihr nicht den Donner gehört, mit dem der Teufel in die Hölle gefahren ist? Oder habt ihr schon jemals gehört, ihr Dummköpfe, daß aus einer Axt der schaurige Schwefelgestank kommen kann, mit dem der Turm erfüllt war und den der Teufel zurückgelassen hat?" Das mit dem Schwefelgestank war allerdings überzeugend. Jochen war also doch unschuldig und man ließ ihn wieder frei. Die Prügel und die Gefangenschaft nahm ihm aber keiner ab. Cordula war aber glücklich, daß sie ihren Jochen wieder hatte.

Lusinde hatte ihr staunend zugehört und wunderte sich über die listenreiche Sorsiera. Die Gute meinte, so arg hätten sie dem Jochen doch nicht mitspielen sollen.

Das alles erzählte Lusinde von sich, von ihrem Schicksal und ihrer Freundschaft mit Sorsiera.

Die Nachtigallenkönigin

Granvicus war mit dieser Geschichte die Zeit wie im Flug vergangen, während indessen seine Knechte eifrig bemüht waren, hundert Nachtigallen zu fangen. Jeden Tag stiegen die Knechte schon zeitlich am Morgen ins Tal zu ihrem traurigen Geschäft und kamen spät abends müde zurück. Sie hatten schon neunundneunzig Nachtigallen gefangen. Nur eine fehlte noch, dann war ihre Arbeit zu Ende. Die eine, die fehlte, das war die Nachtigallenkönigin.

In diesen Tagen hütete der siebenjährige Peter seine Schafe. Er kannte sie alle mit Namen und sie folgten seiner Stimme. Das Haus seiner Eltern war fast unten im Tal. Vor dem Haus stand ein lustiges Männlein ohne Arme, das aus einem Lärchenstamm geschnitzt war und eine hohe spitze Mütze hatte. In dem aufgesperrten Mund war ein Rohr aus Holz eingesetzt, aus dem das Männlein kristallklares Wasser in einen langen Holztrog spie, der aus einem mächtigen Stamm ausgehauen war. Sein Vater hatte einen Streifen Landes mit Lein bebaut, den er mit allerlei Geräten zum Spinnen vorbereitete. Die Mutter hatte einen Ballen Schafwolle am Spinnrocken. Sie ließ das Rad lustig schnurren und freute sich darauf, daraus für den Winter warme Jacken zu stricken. Peter war ein aufgeweckter Bub, mit dem seine Eltern große Freude hatten. Sein Vater hatte ihm ein Messer geschenkt, das einen Holzgriff hatte, aufzuklappen war und das Peter immer bei sich mittrug. Wenn er seine Schafe weidete, blieb immer Zeit, einen Haselstock abzuschneiden und mit wunderbaren Ornamenten zu verzieren, indem er zwischen zwei Einschnitten mit dem Messer die Rinde ablöste, wobei zwischen der dunklen Rinde das helle Holz zum Vorschein kam. Da konnte er breite und schmale Ringe machen, Spiralen aufsteigen lassen, Zacken anbringen und was ihm sonst noch einfiel. Ein Flöte zu machen war auch nicht zu schwer. Dazu öffnete er das Messer, nahm die Spitze der Klinge zwischen zwei Finger und klopfte damit die Rinde solange, bis sie sich wie ein Rohr ablösen ließ. Gelang ihm das, ohne daß die Rinde platzte, war es nicht mehr schwer, mit einigen geschickten Schnitten eine Flöte zu machen.

Langweilig wurde es für Peter nie. Auf den Wiesen gab es so schöne Blumen, herrliche Schmetterlinge flatterten durch die Luft und manchmal traten auch Rehe aus dem Wald. Die Vögel machten ihr Konzert. Peter konnte auch aus den Röhren des Löwenzahnes, von denen man so lustig die Samen blasen konnte, eine Art Flöte machen. Nun wollte er sich ein paar besonders gerade Haselstäbe aus dem Dickicht der Haselnußstauden suchen. Als er die Zweige auseinanderbog, flatterte eine Nachtigall verzweifelt auf, konnte aber nicht fortfliegen, da sie an einer Leimrute klebte. Er hatte Mitleid mit dem armen Vögelchen, löste seine Krallen behutsam von der Leimspindel und reinigte sie zart von den Leimresten. Das Vögelchen war schon ganz erschöpft von den verzweifelten Befreiungsversuchen. Peter sah, daß es ein Krönlein aus goldenen Federn trug. Das Vöglein wurde zutraulich, setzte sich Peter auf die Schulter und sang mit schluchzenden Tönen ihr Klagelied, das so traurig war, daß Peter fast weinen mußte.

All meine Schwestern sollen sterben
durch Granvicus Grausamkeit,
alle will er heut verderben.
O, wie bitter ist mein Leid!

Meine Nachtigallen, alle,
ach, wie ist mein Kummer groß,
gingen alle in die Falle,
und der Käfig ward ihr Los.

Neunundneunzig sind gefangen,
hinter Gitterstäben fest,
und ich frage mich mit Bangen,
ob er sie am Leben läßt.

Haben sie erst mich am Kragen
ist die Zahl von Hundert voll
und ich will dir weinend sagen,
was mit uns geschehen soll.

Unsre Zungen, ausgerissen,
dann mit rohem Ei vermischt,
werden dann als Leckerbissen
Granvicussen aufgetischt.

Nie mehr Nachtigallenschlagen
hörst du durch die Wälder weit
und der Silbertöne Klagen
ist verstummt für allezeit.

So endete das traurige Lied der Nachtigallenkönigin. Sie erzählte ihm von dem verhängnisvollen Rezept der Hexe Lusinde, das so viel Leid über ihr Volk gebracht hatte und mit dem ihr Volk fast ausgerottet worden wäre, wenn Peter sie nicht befreit hätte. Peter dachte hin und her, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, die Nachtigallen zu retten. Die Nachtigallenkönigin meinte: "Vielleicht hat mir unser Schutzpatron, König David, geholfen, daß ich frei wurde und vielleicht wird er weiterhelfen!" König David war ein großer Sänger vor Gott und gerade deshalb war er der Schutzpatron der Nachtigallen. Er hatte den Nachtigallen immer gern zugehört und ihnen manche Melodie abgelauscht, die er dann zum Lob Gottes erklingen ließ. Als er einmal seine goldene Harfe etwas an die Wand stellte, brach ein kleines Goldkörnlein ab, das er nicht weiter bemerkte. Niemand hatte es bemerkt außer einer Elster, die das Goldkörnlein in ihr Nest trug, worin sie schon einige Eier gelegt hatte. Als nun die Jungen aus den Eiern krochen und anfingen im Nest herumzuroren, fiel das Goldkörnlein zu Boden. Eine Nachtigall las es auf und brachte es ihrer Königin. Da freuten sich die Nachtigallen, daß sie nun ein Andenken an ihren Schutzpatron hatten. Als die Nachtigallenkönigin starb, gab sie das Körnlein an ihre Nachfolgerin weiter und so ging es bis heute. Das Goldkörnlein hat aber auch eine besondere Zauberkraft. Vielleicht hilft es auch uns Nachtigallen.

Die Nachtigallenkönigin war schon in den vergangenen Tagen einmal hinaufgeflogen, um die Lage zu erkunden. Sie sah, daß Granvicus den Käfig mit den neunundneunzig gefangenen Nachtigallen hoch über seinem Portal aufgehängt hatte. Dort warteten sie auf ihren Tod. Ihre Königin versuchte sie zu trösten, doch die Lage war hoffnungslos. Die Knechte, erzählte sie, stiegen jeden Tag ins Tal hinunter, um die hundertste Nachtigall zu fangen und kehrten erst am späten Nachmittag zurück. In dieser Zeit wäre es recht ruhig, denn Granvicus komme nur selten heraus. Peter rief: "Da gehe ich in der Zeit hinauf, mache den Käfig auf und lasse alle heraus!" "So leicht geht das nicht," wandte die Nachtigallenkönigin ein, "der Käfig hängt viel zu hoch, du bist viel zu klein und reichst nicht hinauf. Oder willst du vielleicht gar bei Granvicus eine Leiter ausborgen?" meinte sie schon ein wenig getröstet. "Nun, da nehme ich einen langen Haselstock mit und stoße den Riegel einfach auf." "Ja, so ginge es," sagte sie, "nur mußt du sofort davonlaufen und dich gut verstecken, denn wenn dich Granvicus erwischt, schlägt er dich tot! Unter dem Portal ist ein dichter Latschenbusch, dort kriech schnell hinein, wenn du den Riegel offen hast. Denn wenn meine Schwestern frei sind, werden sie ein großes Jubelgeschrei erheben und Granvicus herauslocken. Bleib auch recht lange in deinem Versteck und komme erst heraus, wenn die Luft rein ist!"

Am nächsten Tag bat Peter seine Eltern, ob er den Hund Naz mitnehmen könnte. Dann brachte er seine Schafe auf eine fette Wiese, trug dem Hund auf, die Schafe zusammenzuhalten und gut auf sie aufzupassen, schnitt einen langen Haselstab ab und stieg zwei Stunden hinauf zum Tor des Granvicus. Vorsichtig und mit Herzklopfen schlich er sich näher und da alles ruhig war, stieß er mit dem langen Stab den Riegel des Käfigs auf. Schnell lief er davon und kroch unter einen Latschenbusch. War das eine Freude wie die Nachtigallen mit einem unbeschreiblichen Jubelschrei aus dem Käfig entwichen! Granvicus hatte zunächst nichts bemerkt, denn es dauerte lange, bis er herauskam und die Bescherung sah. Fassungslos starrte er auf den Käfig, als wollte er es nicht glauben, was geschehen war, doch dann fluchte und schimpfte er so gewaltig, daß es in den Bergen widerhallte.

Tauern, Friedrich Fischer

Tauern, Ölgemälde von Friedrich Fischer

So vorsichtig Peter auch herangeschlichen war, einer hatte ihn doch gesehen, Gugeluck. Der saß schon eine Weile unbeweglich auf einem Felsen im Karsee und sah Peter recht aufmerksam und amüsiert zu. Nun freute er sich diebisch, daß seinem Feind ein solcher Schabernack angetan wurde. Natürlich wollte er Peter nicht verraten. Höhnisch rief er zu Granvicus hinauf: "He, alter Krächzer, deine Vöglein sind alle ausgeflogen, du armer, was wird nun aus deiner Stimme? Wirst wohl weiter jaulen und heulen wie bisher, weil deine dummen Knechte den Riegel offen gelassen haben. Armer Narr, Granvicus, du tust mir ja so leid!" Dann zeigte er auf die Nachtigallen und rief: "Schau da in der Luft, da fliegt sie, deine schöne Stimme!" Dabei lachte er so sehr, daß sein feistes Bäuchlein auf- und abhüpfte.

Der Spott brachte Granvicus so in Wut, daß er den nächsten Stein ergriff und wütend nach Gugeluck warf. Unglücklicherweise traf er ihn am Arm. Laut quiekend und heulend tauchte Gugeluck im Karsee unter. In der Nacht hatte er arge Schmerzen von dem Steinwurf und darüber nur einen Wunsch, Granvicus mit seinem Vierzack aufzuspießen! Leider ein vergebliches Verlangen, denn wie sollte er in den Palast des Granvicus gelangen, ohne daß ihn dessen Knechte schon vorher totgeprügelt hätten. Da kam ihm ein Gedanke: Lusinde! Ja, Lusinde, die wird sicher ein Zaubermittel haben, seinen Feind zu vernichten. Er legte also drei schöne Forellen auf eine goldene Muschel und watschelte mühsam den beschwerlichen Weg zur Hütte der Lusinde. "Welche Ehre, welch seltener Besuch!" sagte Lusinde, "Womit kann ich dienen?" Gugeluck erzählte ihr von seinen Rachewünschen und versprach ihr reichen Lohn, wenn sie ihm nur ein Mittel gäbe, Granvicus zu vernichten. Da holte Lusinde vom Wandbrett ein Tiegelchen mit einem Deckel, worin ein blaues Pulver war. Dieses Pulver müsse er beim nächsten Neumond in die Luft blasen und einen Zauberspruch dazu sagen. Er solle nicht vergessen, nur bei Neumond um Mitternacht! Und diesen Spruch nicht vergessen!

Pulverchen steig in die Luft,
breit dich aus als giftger Duft,
steig hinauf zu Granvicus,
mach mit seinem Leben Schluß

Für Gugeluck war es sehr schwer, sich diesen Spruch zu merken und er mußte ihn sich mindestens zwanzigmal hersagen, bis er sich ihn halbwegs gemerkt hatte. Er rieb sich schmunzelnd die Vorderflossen, dankte überschwenglich, nahm den Tiegel, watschelte fort und hatte nur einen Wunsch, daß recht bald Neumond sei!

Inzwischen geschah etwas, womit Gugeluck nicht gerechnet hatte. Granvicus war durch den Spott des Gugeluck so wütend, daß er am liebsten Gugeluck seinen Dolch in den Leib gerammt hätte, wenn dieser nicht am Grunde des Karsees residiert hätte. Er hatte den gleichen Gedanken wie Gugeluck und wollte Lusinde einspannen, ihm zu seiner Rache zu verhelfen. Als er hinkam, hörte er durch das offenen Fenster der Lusinde schon von weitem die Stimme der beiden. Er schlich heran, um nur alles recht gut zu hören. Eiligst kroch er unter einen Hollerbusch unter Lusindes Fenster. Er ärgerte sich sehr über Gugeluck, der so lange brauchte, den Zauberspruch zu lernen, denn er merkte jetzt erst, daß er bis zu den Knien in einem Ameisenhaufen stand. Die Ameisen krochen auf ihn herauf und bissen den unerwünschten Eindringling aus Leibeskräften, der sich nicht rühren konnte, ohne sich zu verraten. Endlich war Gugeluck gegangen und außer Sicht. Sogleich nahm er wütend seinen Dolch aus der Scheide, um sich auf die Hexe Lusinde zu stürzen. Dabei stolperte er und fiel der Länge nach in ein dichtes Gestrüpp von Disteln und Brennesseln. Er rappelte sich wieder hoch, riß die Tür auf und schrie außer sich vor Wut: "Ich bringe dich noch vor Neumond um, du alte Vettel! Das war dein letztes Pulver, das du gebraut hast! Ich habe alles gehört und nun sollst du es büßen!"

Lusinde erschrak sehr, doch faßte sie sich bald wieder. "Halt, halt" rief sie, "wenn du mich umbringst, mußt du auch sterben, denn du hast ja gesehen, wie Gugeluck das Pulver mitgenommen hat. Wenn du mich am Leben läßt, werde ich auch dich retten!" Bis zum Neumond ist noch eine Woche Zeit, ich will hören, dachte Granvicus, was sie mir anbieten wird. Dabei schwang er seinen Dolch drohend herum. "Steck dein Messerchen wieder ein,", sagte sie, "ich denke, dein Leben wird dir wohl den Beutel Gold wert sein, den du da trägst. Ich will dir dafür sagen, wie du gerettet werden kannst." Wütend warf er ihr das Gold vor die Füße. "Da hast du, du unverschämte Hexe, nur rette mich!" "Ich glaube, wir werden uns einig" meinte Lusinde gelassen und verwahrte den Goldbeutel im Schrank. "Also beim nächsten Neumond mach vor deinem Tor einen Ring von dürren Latschenzweigen" erklärte ihm Lusinde, "und wenn du das Pulver aufsteigen siehst, laß die Zweige anzünden, daß dichter Rauch dein Tor einhüllt. Sprich dann diesen Zauberspruch:

Pulver, laß mich unversehrt,
mach vor meiner Türe kehrt!
Wind vom Berge, stell dich ein,
nimm das blaue Pulverlein,
blas hinunter es ins Tal
einem anderen zur Qual!
Pulverchen sink rasch hinab,
bring wen anderen ins Grab!

Diesen Spruch mußt du sagen und alles genau machen, wie ich es dir gesagt habe, dann kann dir nichts geschehen. Granvicus brauchte auch ziemlich lange, bis er sich diesen Zauberspruch gemerkt hatte. Dann verließ er die Hexe und machte sich auf den Weg in seinen Palast.

In den nächsten Tagen waren die Knechte des Granvicus eifrig damit beschäftigt, dürre Latschenzweige zu sammeln und sie in einem Halbkreis um das Tor aufzuschichten. Der Neumond kam und es war so finster, daß man die Hand nicht vor den Augen sah. Gugeluck tauchte auf. Er mußte lange suchen, bis er das Tiegelchen mit dem Pulver fand. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, öffnete er den Deckel, nahm eine Lunge voll Luft und blies gewaltig in das Pulver. Sogleich stieg eine leuchtende blaue Staubwolke auf, die sich zu einer Kugel zusammenzog, die wie ein Luftballon aussah und dann wie unentschlossen in der Luft stehenblieb, als wüßte sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Gugeluck dachte lange und angestrengt nach, bis ihm endlich der Zauberspruch einfiel.

Pulverchen steig in die Luft,
breit dich aus als giftger Duft
steig hinauf zu Granvicus,
mach mit seinem Leben Schluß.

Die blaue Kugel erhob sich nun und stieg langsam hinauf zum Palast des Granvicus. Aber oben hatte Granvicus schon seine Wachen aufgestellt. Als sie die leuchtend blaue Kugel aufstiegen sahen, steckten sie sogleich die Latschen in Brand, sodaß der Qualm den ganzen Eingang einhüllte. Granvicus sagte seinen Zauberspruch, den er von der Hexe gelernt hatte. Die blaue Kugel prallte da und dort an den Qualm, versuchte überall durchzuschlüpfen und, als ihr das nicht gelang, sank sie langsam in die schwarze Tiefe. Lange fand sie keinen Menschen, kein Haus, wo sie hätte Unheil anrichten können. Erst am Mittag erreichte sie ein Haus, aus dessen Kamin Rauch aufstieg und blieb lange über dem Hause stehen, bis kein Rauch mehr aus dem Kamin kam. Dann machte sie sich recht schmal und schlüpfte durch den Kamin ins Haus. Zwei Menschen, die Eltern des kleine Peter, waren in der Stube. Der blaue Dunst breitete sich rasch in der Stube aus und kaum hatten die beiden einen Atemzug getan, so fielen sie tot um.

Als Peter vom Schafehüten heimkam, fand er seine toten Eltern und wußte nicht, was er voll Verzweiflung tun sollte. Er weinte bitterlich und wußte nicht, wem er sein Leid klagen sollte und wer ihm da helfen konnte. Am nächsten Morgen ließ er die Kühe ins Freie, sie sollten sich selber ihr Futter suchen. Den Hund Naz band er los und ging, wie gewohnt, mit den Schafen auf die Weide. Dort wollte er nachdenken, was zu tun sei. Schluchzend und verzweifelt setzte er sich auf einen Baumstrunk und ließ seinen Tränen freien Lauf. Auf einmal spürte er ein leises Krabbeln auf seinen Schultern und hörte die bekannte Stimme der Nachtigallenkönigin. Er erzählte ihr von dem Unglück, daß seine Eltern, die gestern noch gesund und fröhlich waren, nun tot in der Stube lagen. Sie waren auch nicht im geringsten verwundet und er könne sich nicht erklären, wie das geschehen sei.

"Ich glaube, jetzt verstehe ich, was mir meine Nachtigallen berichtet haben." sagte die Nachtigallenkönigin. Sie hätten eine leuchtend blaue Kugel gesehen, die zu Granvicus aufstieg, wieder herabsank, um dann in das Haus einzudringen, in dem nun seine Eltern lagen. Die Nachtigallenkönigin versuchte ihn zu trösten und meinte, es sei sicher ein Zaubermittel an ihnen wirksam und vielleicht schliefen sie nur wie weiland Dornröschen. Sie habe außerdem noch das Goldkörnlein von König David, das könne sicher allen bösen Hexenzauber zunichte machen, denn Gott hatte ihn sehr geliebt, weil er so herrliche Lieder zu seinem Preis singen konnte. Das würde sie ihm gerne geben, denn er hatte ja auch allen Nachtigallen das Leben gerettet.

Dann riet sie ihm: "Nimm das Goldkörnlein und wirf es oben in die Quelle, aus der deine Schafe immer trinken, tränke ein Tüchlein mit dem Wasser und lege es deinen Eltern auf die Stirne. Sicher werden sie erwachen!" Sie flog kurz weg, kam mit dem Goldkörnlein im Schnabel bald wieder und ließ es in die kleine Hand Peters gleiten. Der dankte innig, stieg sogleich voll Hoffnung zu der Quelle und machte alles, wie ihm die Nachtigallenkönigin gesagt hatte. Als er die Stirne seiner Eltern mit dem Tuch berührte, begannen sie sich zu recken und zu strecken, erwachten und fragten verwundert, wieso sie so fest und lange schlafen konnten. Peter erzählte ihnen alles genau wie es geschehen war. Sie kamen aus dem Staunen nicht heraus und lobten ihn, daß er so brav und entschlossen gehandelt hatte.

Die Nachtigallenkönigin und ihre Schwestern hatten nun etwas besonderes vor. Sie sammelten sich alle, stiegen auf und flogen vor das Tor des Granvicus, dort jubelten sie laut und flogen singend hin und her, bis Granvicus heraustrat. Unten saß Gugeluck auf einem Felsen im See, den Vierzack in der Hand und sah neugierig und aufmerksam herauf. "Deine Nachtigallen sind wieder da," rief er, "fang sie, alter Krächzer! Wenn du sie wieder hast, braucht keiner mehr dein Geheul und Gejohle zu hören! Schnell, beeile dich, ehe sie wieder fortfliegen!" Dabei lachte er, was er konnte.

Der Spott brachte Granvicus in Raserei. Wild schlug er mit den Armen nach den Nachtigallen, doch sie wichen ihm geschickt aus. Das brachte ihn nur noch mehr in Wut. Langsam und geschickt lockten ihn die Nachtigallen zum Abgrund. Ein nasses Grasbüschel, auf das Granvicus trat, wurde ihm zum Verhängnis. Er glitt aus und kollerte den steilen Abhang hinunter zum Karsee. "Komm nur," rief Gugeluck und faßte seinen Vierzack fester. "Ich spieße dich gleich auf, komm nur!" Noch im Fallen konnte Granvicus seinen Dolch herausziehen, denn als er ins Wasser platschte, hatte ihm Gugeluck schon seinen Vierzack in den Leib gerammt. Aber der starke Granvicus stieß ihm noch mit letzter Kraft den Dolch ins Herz. In kurzem Kampf schäumte das Wasser auf, färbte sich vom Blut der Kämpfer rot, dann wurde es still. Die beiden Feinde sanken tot zum Boden des Sees. Nun wurde die Erde von gewaltigen Stößen erschüttert. Der unterirdische, weitverzweigte Palast unter den hohen Bergen und Gletschern stürzte donnernd ein und begrub alle Goldschätze des Fürsten. Mächtige Felsblöcke und Schutt donnerten in den Karsee und schütteten das feuchte Grab der beiden zu. Es blieb nur ein kleiner Tümpel übrig, aus dem die Schafe heute noch trinken. Aber niemand weiß heute mehr, wo die beiden Fürsten gelebt haben, denn so kleine Tümpel gibt es in den Bergen, die die Leute die Hohen Tauern nennen, überall in großer Zahl. Die Erde bebte damals so stark, daß sogar im fernen Gailtal der Gipfel eines hohen Berges abbrach, gewaltige Landmassen ins Tal stürzten und viele Menschen unter sich begruben.

Von Lusinde ist zu berichten, daß sie alt und einsam geworden wieder nach Dachswiesen zog, wo sie niemand mehr erkannte. Sie ließ alle Zauberei und erinnerte sich an das Heilkräuterbuch von ihrem Bruder. Damit half sie vielen Kranken, denn die gibt es ja überall. In späteren Zeiten gruben viele Leute in diesen Bergen und fanden Gold, aber niemand ahnte, daß es von den Schätzen der beiden Fürsten stammt. Heute noch rieseln aus den Felsen viele Heilquellen, die vielen Menschen Linderung ihrer Leiden bringen. Aber niemand weiß, daß sie ihre Heilkraft dem Goldkörnlein von der goldenen Harfe König Davids verdanken, außer euch, dir ihr die ganze Geschichte nun kennt.

Quelle: Märchen von Friedrich Fischer; von Andreas Zieritz am 24. Februar 2004 freundlicherweise für SAGEN.at zur Verfügung gestellt.