Ein geheimer Platz

Es waren einmal zwei kleine Mädchen, die ältere der beiden war 7 Jahre und die jüngere 6 Jahre alt. Während die ältere gerne zu Hause spielte, tummelte sich die jüngere lieber im Freien herum.

Eines Tages entdeckte sie eine Stelle an der sie zuvor noch nie gewesen ist - verwundert sah sie sich um, sie war doch noch gar nicht so weit gelaufen?

Die Eltern hatten ihr verboten zu weit vom Haus weg zu spielen, doch diese Gegend war ihr unbekannt.
Schon wollte sie heimgehen da hörte sie eine leise Stimme. Als sie sich umblickte, konnte sie niemanden sehen, aber sie hörte abermals diese Stimme und nun sah sie unter einen Steinhaufen eine graue unscheinbare Eidechse, die sie mit leiser Stimme ansprach.

Die Eidechse sagte: "Hallo Mädchen, kannst du mir etwas Milch bringen? Ich bin krank und nur mit Milch werde ich wieder gesund!"

"Gerne kleine Eidechse, aber ich weiß nicht, ob ich dich wieder finde?"

Die Eidechse sagte: "Gehe nur den Hügel hinauf und du findest mich wieder. Wenn du mit der Milch zurück kommst brauchst du nur den kleinen Apfelbaum berühren und du bist bei mir."

Das Mädchen lief den Hügel hinunter und siehe da, gleich in der Nähe war das Haus ihrer Eltern, sie war also gar nicht soweit fortgelaufen.

Die Muter gab ihr ohne Nachzufragen einen Becher Milch.

Mit dem Becher Milch in der Hand lief sie zum kleinen Apfelbaum. Kaum hatte sie den Baum berührt, stand sie wieder auf dem unbekannten Ort. Die Eidechse wartete schon. "Ich habe gleich gewusst,dass du wiederkommst!" und schlürfte die Milch. "Du müsstest mir nun drei Tage lang etwas Milch bringen, geht das? Aber Niemanden von meinen Versteck erzählen!"

"Ist gut" sagte sie, "Ich werde es nicht weitersagen!"

Doch am dritten Tag wollte ihre Schwester wissen, wo sie immer mit der Milch hingehe? Weil sich die Schwestern gut vertragen haben, hätte sie es beinahe verraten, aber sie sagte nur: "Ich bringe die Milch einem armen Tier."

Da hatte sie nicht gelogen und verraten hat sie auch nichts.

Als sie wieder zum geheimen Platz kam, konnte sie die Eidechse nicht finden und sie rief leise "Kleine Eidechse, deine Milch ist da wo bist du?"

Nach kurzer Zeit raschelte es unterm Laub und eine wunderbar glänzende Eidechse kam heraus. Sie war Smaragdgrün, der Rücken glänzte wie Gold und auf den Kopf trug sie eine goldene Krone.

"Weil du so lieb warst und auch nichts verraten hast, sollst du wissen, dass ich die Königin aus dem Unterholz bin und nie soll dir ein Tier aus meinen Reich etwas Böses tun. Zur Belohnung bekommst du ausserdem noch einen kleinen goldenen Ring. Dieser Ring wird mit deinen Finger mitwachsen und dir immer passen, er soll dich an mich erinnern und wenn du einmal einen einen Wunsch hast, soll er in Erfüllung gehen! Wenn du jetzt gehst, wirst du die Stelle nie mehr finden und nur der Ring wird dich daran erinnern, dass es kein Traum war."

Plötzlich veränderte sich die Umgebung und sie stand an einer Stelle, die sie sehr gut kannte.

Doch nun zurück zu dem Zeitpunkt, an dem sie zum dritten Mal um Milch ging und ihrer Schwester nichts sagte. Diese war neugierig geworden und folgte der Schwester heimlich, doch plötzlich war die Schwester mit der Milch spurlos verschwunden. Sie lief herum und rief ihren Namen - aber vergebens.

Traurig wollte sie schon zurück gehen, als sie stolperte und auf den Boden fiel. Sie stand wieder auf und stellte mit Erstaunen fest, dass sie auf einer wunderbaren Wiese stand. Überall blühten die herrlichsten Blumen. Da sie Blumen sehr liebte, konnte sie einen erstaunten Ruf nicht unterdrücken: "Wo bin ich hier nur?" und rief wieder leise den Namen ihrer Schwester.

Auf einmal vernahm sie rauhe Stimmen, die riefen: "Hei Mädchen, pflück' die Blumen ab!" So sehr sie sich auch anstrengte zu hören, woher die Stimmen wohl kamen, sie konnte sie nicht erkennen. Wieder kam der Ruf: "Hallo Mädchen! Pflück' die Blumen ab!" Da sah sie, dass es ein wilder Haufen Brennessel waren die auf einer Geröllhalde wuchsen. Sie bewegten ihre langen Stiele und rauschten mit ihren stacheligen Blättern. "Hei Mädchen!" riefen sie wieder, "pflück' endlich die Blumen ab!"

"Nein, ihr garstigen Brennessel! Die Blumen sind doch hier viel schöner, als zu Hause in einer Vase!" rief sie zurück, beugte sich nieder und atmete ihren herrlichen Duft ein.

Pötzlich fingen rundherum die Blumen an zu wispern und zu raunen. Zuerst konnte sie kein Wort verstehen, doch als sie sich nahe zu einer Blume beugte, sagte diese mit zarter Stimme: "Da du so brav bist und die Prüfung der Brennessel bestanden hast darfst du dir etwas wünschen und der Wunsch wird in Erfüllung gehen!" nun steh auf und gehe nach Hause.

Als sie aufstand, war die schöne Wiese wieder verschwunden. Dann sah sie auch wieder ihre Schwester. Nun erzählten sie sich ihre wunderbaren Geschichten und gingen fröhlich nach Hause.

Die Zeit verging und bald hatten die Kinder ihre Abenteuer vergessen, der Winter kam und verging. Als der Sommer kam merkten die zwei Mädchen, dass ihre Eltern großen Kummer hatten. Sie waren nicht mehr so lustig wie früher und wurden von Tag zu Tag trauriger.

Eines Tages hörte die ältere der beiden Mädchen, dass ihr Vater sehr krank war und die Ärzte nicht viel Hoffnung hatten. Die Kinder weinten viel und jeden Abend haben sie gebetet, dass der Vater wieder gesund wird. Doch sein Zustand wurde immer schlimmer. Es war Samstag, am Montag sollte er in die Klinik - viel Hoffnung gab es nicht mehr.

Die Mädchen erinnerten sich an den Wunsch und beteten: "Liebe Blumen erfüllt uns einen Wunsch: lasst unseren Vater wieder Gesund werden!" dann schliefen sie in ihren Betten ein.

Am nächsten Morgen schien schon hell die Sonne in Ihr Zimmer. Ihre Mutter holte sie zum Früstück. Sie war glücklich wie lange nicht mehr. Als sie in die Stube kamen, saß der Vater schon am Tisch und lachte sie an. "Ein Wunder ist geschehen!" sagte die Mutter. Über Nacht ist der Vater wieder Gesund geworden! "Ja", sagte der Vater, "es ist wirklich ein Wunder!" Noch am selben Tag gingen sie in die Kirche und dankten Gott. Alle glaubten an ein Wunder, doch die Mädchen wußten es besser. Sie sahen sich an und schwiegen, sie hatten ihren Wunsch richtig verbraucht.

Denn eine glückliche Familie ist mehr wert, als alles Gold der Welt.

Auch Pflanzen und Tiere sind aus Gottes Hand darum schütze sie ein Leben lang.


© E-Mail-Zusendung von Herbert Schön, 5. August 2003, der dieses Märchen nach Erzählungen von seinen Großeltern, die Bauersleute waren, aufgezeichnet hat.