Bergestürzer und Eichenreißer.
Eines Jägers Frau im Walde hatte zwei kleine Knaben, ein Zwillingspaar.
Die Kinder waren erst wenige Tage alt, da starb die Mutter.
Kein Mensch kümmerte sich um die beiden Waisen, aber sie wurden von
einer Wölfin und einer Bärin gesäugt. Sie wuchsen heran
und wurden riesenstarke Jünglinge. Der eine konnte Berge umwerfen,
als wären es Sandhaufen; er bekam den Namen Bergestürzer. Der
andere riß die stärksten Eichen aus der Erde, als wären
es Grashalme; er bekam den Namen Eichenreißer.
Die beiden Brüder liebten sich von Herzen und gingen zusammen auf
Reisen, um die weite Welt zu sehen. Sie gehen durch eine Heide, einen
Tag und noch einen. Am dritten Tage bleiben sie stehen, denn ein Berg
versperrt die Straße, und der Berg war hoch und felsig.
"Was fangen wir nun an!" ruft der Eichenreißer traurig.
"Sorge nicht, geliebter Bruder; ich will diesen Berg schon stürzen,
daß die Straße nicht gesperrt bleibt!"
Stemmt sich unter mit den Schultern: krachend fällt sogleich der
Berg um; schiebt ihn fort noch eine Meile.
Gehen weiter. Eine Eiche stehet mitten auf dem Wege und versperrt die
ganze Straße. Eichenreißer läuft geschwinde, packt die
Eiche mit den Händen, reißt sie aus samt ihrer Wurzel, wirft
sie in das nahe Wasser. - Aber ob sie gleich so stark sind, fühlen
sie doch auch Ermattung; ruhen also aus im Walde. Noch sind sie nicht
eingeschlafen, sieh, da kommt ein kleines Männchen auf sie zu, doch
so geschwinde, daß kein Tier und auch kein Vogel es vermöchte
einzuholen.
Sie erheben sich verwundert, als das Männchen nun im Fluge gerade
vor den beiden Halt macht.
"Ei, wie geht es Euch, Ihr Burschen?" fragt das Männchen
freundlich lächelnd; "seid ermüdet, wie ich sehe. Wenn
Ihr wollt, will ich geschwinde Euch hintragen, wo Ihr wünschet."
Einen Teppich zeigt er ihnen: "Setzt Euch mit mir auf den Teppich!"
Und die beiden Brüder setzen sich bequem drauf nebst dem Männchen;
dieses klatscht, - und der Teppich fährt wie'n Adler durch die Lüfte.
"Sicher habt Ihr Euch gewundert," sagt das kleine Männchen
wieder, "über meinen Lauf vorhin: seht mal her! Hier sind zwei
Schuhe, die ein Zauberer mir geschenkt hat. Mit den Schuhen kann ich laufen:
jeder Schritt ist eine Meile; zweie mach ich, wenn ich springe."
Beide Brüder bitten dringend, daß das Männchen ihnen doch
die Wunderschuhe schenken möchte; denn obgleich sie riesenstark sind,
werden sie doch auch bald müde.
Das Männchen konnte den Bitten nicht wiederstehen und schenkte ihnen
die Schuhe. - Noch immer flogen sie in der Luft. Vor einer großen
Stadt ließ sich der Teppich nieder. In dieser Stadt war ein ungeheurer
Drache, der täglich viele Menschen fraß. Der König hatte
bekanntgemacht: Demjenigen, der den Drachen tötet, geb ich eine von
meinen Töchtern zur Frau, und nach meinem Tode soll er König
sein.
Die beiden Brüder nehmen sich vor, den Drachen zu töten, und
machen sich auf den Weg zu des Drachen Höhle. Unterwegs treffen sie
wieder das kleine Männchen.
"Ei, wie geht es Euch, Ihr Burschen? Weiß schon gut, wohin
Ihr eilet! Aber höret meinen Rat noch: ziehet jeder einen Schuh an;
denn sobald der Drache rausspringt, läßt er Euch nicht Zeit
zum Töten."
Sie gehorchen diesem Rate. Eichenreißer bewaffnet sich mit einem
mächtigen Eichenstamme, um dem Drachen damit den Kopf zu zerschmettern.
Bergestürzer schüttelt an den Felsenwänden der Drachenhöhle,
als wäre es ein Bündel Roggen.
Aus der Höhle springt der Drache, und erschreckt denkt Eichenreißer
nicht mehr an den großen Baumstamm, den er kräftig in der Hand
hält. Nur ein Glück, daß er den Schuh hat, denn er springt
zwei Meilen seitwärts. - Da der Drache ihm nicht nach kann, wirft
er sich auf Bergstürzer. Dieser nimmt ein mächt'ges Felsstück,
wirft es hin mit allen Kräften; krachend fällt der Block zu
Boden, grade auf den Schwanz des Drachen. Und nun springt auch Bergestürzer
seitwärts fort, schnell und behende, - und erblickt da seinen Bruder.
"Laß uns wieder hin, mein Bruder, denn das Tier kann nicht
vom Platze: Du hau los mit deinem Eichstamm, und ich stürze einen
Berg drauf!"
Dreister gehen sie nun vorwärts. Eine Eiche schwingt der eine, und
der andre trägt ein Felsstück. Gräßlich heult und
faucht der Drache, da nun beide Gegner kommen. Wütend will er auf
sie stürzen, doch den Schweif drückt jenes Felsstück. Eichenreißer
haut nun kräftig und zerschmettert das Gehirn ihm; und der Bruder
wirft den Berg drauf und bedeckt das ganze Untier.
Ungeduldig harrt der König. Groß ist jetzo seine Freude: jedem
gibt er eine Tochter. Bald darauf, nach seinem Tode, teilten beide in
das Reich sich, - lebten glücklich und zufrieden.
Quelle: Kasimir Wladislaw Woycicki, Polnische Volkssagen und Märchen. Friedrich Heinrich Lewestam, Berlin, 1839