DAS VENEDIGERMANNL

Nächst der tirolischen Stadt Hall, die durch ihre Salzbergwerke weithin bekannt ist, erhebt sich ein mächtiger Gebirgskegel, der "Hohe Anlaß" genannt.

Der Berg ist im Sommer mit dem üppigsten Grün bedeckt und bietet eine herrliche Weide für das Vieh. Nebenbei erzählt man sich aber allerlei von kostbaren Erzen, die er in seiner Tiefe bergen soll, und daß er mehr Gold und Edelsteine in seinem finsteren Schoße trage, als König Salomo einmal zu dem berühmten Tempelbau gebraucht habe.

So war es einst an einem schönen, heiteren Sommernachmittag. Da lag Friedel, der Geißhirt von Thaur, gemächlich auf das weiche Moos hingestreckt, im Schatten eines mächtigen Haselstrauchs; vor ihm ausgebreitet lag die prachtvolle Landschaft im lieblichen Sommerlichte, und die Turmspitzen der tief unter ihm liegenden Ortschaften funkelten wie lauteres Gold im blendenden Sonnenstrahl.

Das schmeckte und gefiel dem Friedel so gut, daß er gemütlich auf seinem Plätzchen liegen blieb, gemächlich sein Pfeifchen schmauchte und zuschaute, wie seine muntere Herde in mutwilligen Sprüngen bald daher, bald dorthin trieb.

Die Sonne neigte sich bereits dem Westen zu, da krabbelte etwas mühsam den steilen Gebirgspfad herauf, und er gewahrte ein winziges Männlein, welches oftmals stehenblieb und hustend mit sichtlicher Anstrengung die Höhe zu gewinnen suchte, wo der Geißhirt vergnügt ruhte.

Das war ein seltsames Männlein!

Es trug ein schwarzes, abgestoßenes Samtwams, weite Hosen von gleichem Stoff und über die kurzen mageren Beinchen hochrote Strümpfe; die ansehnlich großen Füße staken in Schnabelschuhen mit riesigen silbernen Schnallen, den Kopf bedeckte ein kleiner runder Filzhut, und auf dem Rücken trug es ein seltsam geformtes Kästchen von braunem Zedernholz; ein kurzer Stab mit einem stählernen Griff in Form eines Hammers diente ihm zur Stütze; die ganze Figur vom Scheitel bis zur Sohle mochte kaum einen Meter messen.

So kam das Männlein herangestolpert, und die grauen spärlichen Haarlocken flatterten unheimlich um das bleiche, abgemagerte Gesicht des seltsamen Fremdlings.

War nun auch die ganze Erscheinung geeignet, eher Lachen und Bedauern rege zu machen als Furcht, so flößten der scharfe Blick und die Lebendigkeit und Klugheit, die aus den kleinen, tiefliegenden Augen des Männleins leuchteten, doch wieder Achtung vor ihm ein, und man vergaß wohl darüber seine lächerliche Außenseite.

Als der Ankömmling des Geißhirten ansichtig wurde, stolperte er hastig auf ihn zu, räusperte sich zuerst ein paarmal recht laut und fragte dann den erstaunten Knaben mit heiserer Stimme:

"Ist das Salzgebirg'? - Wo ist Hoher Anlaß? - Lauf ik schon halben Tag herum, kann nikt finden!"

"Da heißen wir's den Hohen Anlaß", sagte Friedel mit zutraulicher Miene, indem er sich aufrichtete und sein Käpplein rückte, "wenn's ös nix weiter suchts als den Berg, so habt's enker Sach' schon g'funden."

Dieser Bescheid schien dem Männlein sehr zu gefallen, denn es holte tief Atem und rieb sich vergnügt die Hände. Dann stellte es seine Bürde ab und langte allerlei sonderbare Instrumente heraus, die es vor sich aufrichtete; mit seinen lebhaften Augen im Kreise umherspähend, glaubte es endlich den rechten Fleck gefunden zu haben. Dort kniete es nieder, schnitt mit seinem Messer ein Viereck in den Rasen und hob das Stück heraus, so daß die Erde offen vor ihm lag. Von dieser Erde, die eine auffallend rote Farbe hatte und sehr feucht schien, schöpfte es eine ansehnliche Menge heraus und formte kleine Kugeln davon, die es wohlgefällig mit der Hand abwog. Als es ein Dutzend fertig hatte, schloß es sie sorgfältig in sein Kästchen, hob es empor, ob es wohl imstande sein werde, die Last zu tragen, und machte dann die Öffnung mit dem ausgehobenen Rasenstücke so genau zu, daß es unmöglich war, die Stelle wieder zu erkennen. Zuletzt formte es von der wenigen zurückgebliebenen Erde noch eine Kugel, die es in sein Wams steckte, dann sagte es zum Friedel, der ihm stumm und verwundert zugeschaut hatte:

"Lieber Knab'! Willst du mir maken einen Gefallen? Ik will dir was dafür geben." - "Warum denn nit!" entgegnete dieser gutmütig. "Soll i enk vielleicht dös Kraxl da übers Bergmad abitragen?"

Friedel schien dem Fremden aus der Seele gesprochen zu haben, denn er nickte vergnügt mit dem Kopf und sagte hastig mit einem beifälligen Lächeln:

"Ah, du sein braver Bub! Du mir tragen die Last bis zum Alpenhause und ik dir dann geben einen guten Lohn!"

Friedel besann sich nicht lange und hob das Kästchen auf die Schultern; das war aber doppelt so schwer, als er vermutet hatte. Rüstig schritt er nun den jähen Abhang hinunter, gefolgt von dem sonderbaren Kleinen, der ihm mühsam nachkletterte. In einer kleinen Stunde hatten sie die Thaurer Sennhütte erreicht, wo Friedel seine Bürde dem Fremden übergab, um zu seiner Herde zurückzukehren.

"Braver Bub! Lieber Bub!" sagte dieser zum Abschied, langte aus dem Wams die Kugel hervor, die er zuletzt geknetet hatte, und gab sie dem Knaben. "Da haben du ein Andenken von mir, ist gut gezahlt, kein Kaiser so bezahlen, und wenn ik nächstes Jahr wiederkommen, du wieder da sein, ik dir dann mitnehmen, daß du sehen große schöne Stadt mitten im Meer; auf der ganzen Welt keine solche Stadt sein. Dieses Land auch schön, braves Land, viel Gold da; aber Leute blind, nikt viel Verstand. Placken sik um den Pfennig und schlafen auf Dukaten."

Mit diesem Geplauder nahm er von dem verblüfften Knaben Abschied und setzte in der bereits beginnenden Abenddämmerung seine Reise fort, während der gute Friedel meinte, ein Silbergröschlein wäre ihm lieber gewesen als die Hexenkugel. Er schob sie aber doch in sein Ränzlein und kehrte dann wieder eiligst zu seiner Herde zurück.

Seit jenem Vorfalle war schon manches Jahr vergangen, und der kleine Geißhirt war ein stattlicher Bursch geworden. Da kam er einmal zufällig mit einem Herrn aus dem Bergwerke von Hall auf das wunderliche Abenteuer zu sprechen und erzählte ihm die ganze Geschichte von dem kleinen Männlein. Der Bergherr wurde neugierig und verlangte die Kugel zu sehen, die Friedel aufgehoben hatte und die mittlerweile so hart wie Stein geworden war. Schon das ungewöhnliche Gewicht mußte dem Fachmann auffallen, und als er sie einer näheren Prüfung unterwarf, zeigte es sich, daß sie zwei Dritteile reines Gold enthielt. Mit dessen Erlös konnte der über alle Maßen erstaunte und erfreute Friedel ein eignes Anwesen kaufen, denn er bekam für das Gold fast zweitausend Gulden aus dem Münzamte.


Quelle: Die schönsten Märchen aus Österreich, o. A., o. J.,