DER GLÄSERNE BERG

Es ist schon lange her, da lebte einmal tief in einem Walde ein Förster, der hatte einen Sohn, der auch ein tüchtiger Jäger war. Der ging einmal hinaus auf die Jagd und schoß Hirsche und Rehe, als ob alles Wild nur da wäre, um von ihm geschossen zu werden. Er wollte eben heimkehren, da ließ sich ein wunderschönes Reh sehen, und das wollte er noch schießen, bevor er nach Hause ging. Das Reh lief immer weiter, und wenn er wieder seine Flinte anlegen wollte, so war es hinter zehn Bäumen verschwunden. Er aber gab auch nicht nach und dachte: nachlaufen tu ich, solange mich die Beine tragen. Auf einmal sah er einen großen, spiegelblanken See vor sich, worin sich die Fischlein munter tummelten. Der Försterssohn schaute sich den See genau an, denn er hatte ihn noch nie gesehen, und er dachte sich: daher komm ich nicht alle Tage.

An einer Ecke, nicht weit von dem Platze, wo er gerade zu stehen gekommen war, sah er drei Badende, und an den langen Haaren, die über den See hinschwammen, erkannte er leicht, daß es Frauen waren. Hinter einer Hecke sah er ihre Überkleider liegen. Diese nahm er und lief davon. Er war noch nicht weit im Walde, da kamen die drei Jungfrauen herangelaufen und baten um ihre Überkleider. Nach langem Bitten stand der Försterssohn stille und nahm die entwendeten Kleider vom Rücken. Zuerst gab er der ältesten der Mädchen, dann endlich auch der zweiten das Eigentum zurück. Sobald sie ihre Kleider hatten, waren beide verschwunden, als ob sie der Wind vertragen hätte.

Die dritte aber, die Jüngste und Schönste, ging noch lange nach und bat den Jüngling immerfort um ihr Überkleid. Er aber tat, als ob er gar nichts hörte, ging weiter und ließ die Bittende weiter neben sich herlaufen. Als er nach Hause kam, gab er ihr ein Kleid von seiner verstorbenen Mutter und hieß sie mit dem zufrieden sein. Das Mädchen aber war bildschön und gefiel dem Jüngling, der eben ans Heiraten dachte, so sehr, daß er sich in den Kopf setzte, es zur Frau zu nehmen. Er fragte jedoch alle Leute in der ganzen Umgebung, ob sie ihm denn nichts Näheres von dem schönen Mädchen oder von seinen Eltern zu sagen wüßten. Niemand wußte etwas anderes, als daß die Jungfrau eben achtzehn Jahre alt war. Das ist ja gerade recht, dachte sich der Försterssohn, ich bin zwanzig Jahre alt, sie achtzehn, besser könnten wir ja nimmer zusammenpassen. Er ging also schnurstracks zu dem schönen Mädchen und fragte: "Magst du mich heiraten?" Das Mädchen besann sich nicht lange und sagte: "Ja." Nun wurde zur Hochzeit alles vorbereitet. Der alte Förster verzierte sein Haus mit allen Hirschgeweihen, die er zusammengebracht hatte, der junge aber ging in die Stadt und kaufte seiner Frau das schönste Gewand, das er aufbringen konnte.

In einigen Wochen kam es zur Hochzeit, da wurde gesungen und gejodelt, als wäre der Himmel voll Geigen. Friedlich und fröhlich lebte der junge Förster mit seiner Frau im kleinen Försterhause. Der alte Förster aber blieb auch bei ihnen und hatte sie gern, wie ein Vater seine Kinder haben soll.

Wenn der Förster mit seiner Frau allein im Garten saß oder im Walde ging, so bat sie ihn oft, er möchte ihr doch einmal jenes Gewand wiedergeben, welches er ihr bei dem See entwendet hatte. Er aber wußte immer eine Ausrede und behielt den Schlüssel zum Schrank, worin das Gewand lag, ständig bei sich.

Eines Tages ging er mit seinem Vater hinaus in den Wald auf die Jagd und hatte den Schlüssel zu Hause vergessen. Seine Frau sah diesen auf dem Kasten liegen und war überaus froh, wieder ihr Kleid zu bekommen. Eiligst sperrte sie den Kasten auf, nahm ihr Gewand heraus, legte es an - und husch! - war sie auf und davon.

Abends kam der Förster nach Hause, rief überall nach seiner Frau - aber sie gab keine Antwort. Er glaubte, es sei ihr ein Leid begegnet, und trübselig schlich er im Hause umher. Endlich warf er zufällig einen Blick auf den Kasten, in dem er das Kleid seiner Frau verborgen hatte, und als er daran den Schlüssel stecken sah, ahnte er Schlimmes. Er wollte nun nachsehen, ob das Gewand seiner Frau noch im Kasten sei, und riß, unwillig über sich selbst, die Schublade auf, woran der Schlüssel stak. Mit einem Blick sah er, daß kein Kleid mehr in der Schublade war, aber daß dafür ein Brief auf dem Kasten lag.

An den schönen Buchstaben erkannte er sogleich die Schrift seiner Frau, und er las mit klopfendem Herzen folgende Worte: "Wenn mich mein Mann liebt und wiederfinden will, so soll er mich auf dem gläsernen Berge suchen."

Der Förster besann sich keinen Augenblick, öffnete die Geldkiste, die in einer Ecke der Kammer stand, und steckte eine Menge Goldstücke zu sich, um auf der weiten Reise keine Not zu leiden. Dann ging er zu seinem Vater und erzählte ihm von dem sonderbaren Briefe und von seinem Vorhaben, die verschwundene Frau auf dem gläsernen Berge zu suchen. Der alte Vater machte freilich große Augen bei dieser Erzählung, aber ehe er recht zu Worte kam, hatte ihm der Sohn zum Abschied schon die Hand gedrückt und war im nahen Wald verschwunden.

Der junge Förster ging nun aufs Geratewohl bis in die späte Nacht, und als am ändern Tag der erste Vogel pfiff, war er schon wieder auf den Beinen und schritt mutig fort, bis es wieder stockdunkle Nacht war. So ging es tagaus, tagein, bald durch finstere Wälder, bald über lichte Wiesen, bald auf, bald ab, bald hin und bald her. Der junge Wandersmann ging und ging, und er war schon neugierig, zu wissen, wann er wohl zum gläsernen Berg kommen würde. Sooft er in einem Hause zu Mittag aß oder übernachtete, fragte er die Leute, ob sie denn nie etwas von einem gläsernen Berg gehört hätten. Da schauten ihn die Leute groß an, und manche meinten wohl gar, der junge Bursch habe sich in den April schicken lassen. Begegnete ihm auf dem Wege ein altes, runzliges Mütterchen, so war immer nach dem "Grüß Gott!" die erste Frage: "Mütterchen, wo ist etwa der gläserne Berg?" Aber kein Mütterchen wußte, wo der gläserne Berg sei, und halb verdrießlich wanderte der Förster wieder weiter.

Eines Tages war er lange, lange durch einen dunklen Wald gegangen, und als es anfing zu dämmern, war er recht froh, ein Haus vor sich zu sehen, um darin über Nacht bleiben zu können.

Ohne sich lange zu besinnen, ging er hinein, und es kam ihm ein Mann entgegen, der ihn fragte, wohin er wolle. Der Förster antwortete, er wolle den gläsernen Berg finden, doch bisher sei all sein Fragen und Suchen vergeblich gewesen. Als der Mann von diesem Plan hörte, wurde er recht freundlich und höflich, führte den Wanderer in ein hübsches Zimmer und lud ihn ein, da über Nacht zu bleiben. Der Förster ließ sich nicht lange bitten, aß zuerst ein gutes Nachtmahl, das man ihm vorsetzte, und legte sich dann in das weiche Federbett, das in einer Ecke des Zimmers stand. Kaum lag er, so begann er tief zu schlafen, und ohne nur ein einziges Mal aufzuwachen, schlief er, bis der helle Tag in die Kammer schien. Da erwachte der Förster, rieb sich zuerst die Augen, machte sich wieder reisefertig und ging zu dem Mann, um ihm für die freundliche Aufnahme zu danken. Nachdem er sich gebührend bedankt hatte, fragte er: "Aber mein lieber Mann, weißt du denn auch nicht, wo etwa der gläserne Berg ist und wie lange ich noch gehen muß, bis ich dahin komme?"

Der Mann, der ein Hexenmeister war, antwortete: "Ja, bis dahin ist's noch ein gutes Stück Weg. Aber damit du schneller an den Ort kommst, will ich dir ein Mittel geben, für das du mir gewiß sehr dankbar sein wirst."

Da ging der Hexenmeister weg, und nach einigen Minuten kam er mit zwei ungeheuren Stiefeln zurück. "Da, zieh diese Stiefel an und laß sie nur gehen, wohin sie wollen. Heute abend noch wirst du zum gläsernen Berg kommen, dann zieh die Stiefel aus und sieh zu, was weiter geschieht!"


Der Förster bedankte sich herzlich, schlüpfte in die Stiefel, und flugs ging es zur Haustür hinaus und dann über Stock und Stein, durch Wald und Feld, so schnell, daß dem armen Förster beinahe der Atem versagte. Eine Stunde verging um die andere, ein Stiefel trat immer vor den ändern - aber der gläserne Berg wollte sich noch immer nicht zeigen.

Schon war die Sonne dem Untergang nahe, da sah der Wanderer vor sich etwas glänzen und flimmern, und das Glänzen und Flimmern kam immer näher und näher, so daß der Förster bald überzeugt war, dem Ziel seiner Reise nahe zu sein.

Die Stiefel griffen noch einige Male aus, bis sie am Fuß des gläsernen Berges haltmachten. Der Förster mußte nun zuerst die Augen zudrücken, ein solcher Schimmer leuchtete ihm von dem vielen Glas entgegen. Sobald er die Augen wieder aufzutun wagte, zog er sich zuerst die Riesenstiefel aus, so wie es ihm sein Wirt aufgetragen hatte. Kaum hatte er das riesige Paar vor sich hingestellt, so hatte er es auch zum letzten Male gesehen.

Mit blinzelnden Augen ging nun der Förster am Fuß des Berges herum, um sich soviel wie möglich zu beschauen. Der Berg, der vor ihm stand, war wirklich von unten bis oben aus hellem Glas, und die Bäume und Sträucher und Gräser, die darauf und daneben blühten, waren alle von purem Glas. Und weil eben die Abendsonne darauf schien, bot er den herrlichsten Anblick. Die gläsernen Baumblätter flimmerten noch viel schöner als zitternde Birkenblätter im Sonnenglanz. Und die Gräser neigten und beugten sich im leisen Abendwind, und mit ihnen neigten und beugten sich die vielen Farben, die sie widerstrahlten. Der Berg selbst aber spiegelte die Sonne, beinahe noch schöner und heller, als sie am blauen Himmel stand.

Das alles gefiel dem Förster wohl, und er hätte sich nur gewünscht, daß seine Augen den Glanz recht vertrügen und daß er auch wüßte, wie über den glatten Berg hinaufzukommen sei. Doch er dachte sich: kommt Zeit, kommt Rat, und schaute einmal ganz gemächlich nach allen Seiten. Da hörte er nicht weit von sich ein Geschrei, und als er näher kam, bemerkte er, daß sich zwei Knaben um einen Sattel stritten. Aha, dachte er sich sogleich, da hab' ich's schon, der Sattel ist offenbar auch so ein Reitpferd wie die zwei Stiefel. Mit großen Schritten ging er auf die Knaben zu, zog ein Goldstück aus der Tasche und warf es ihnen hin. Beide stürzten gierig auf das Goldstück los, der Förster aber setzte sich schnell auf den Sattel und husch! war der Sattel mit dem Reiter auf der Höhe des gläsernen Berges.

Der Reiter stieg ab und sah um sich eine schöne gläserne Ebene und darauf ein prachtvolles gläsernes Schloß. Ohne sich lange zu besinnen, ging er in das Schloß und über die Stiege hinauf. Auf der Stiege begegnete ihm eine Frau, die er sogleich als seine Gemahlin erkannte. Sie hieß ihn herzlich willkommen, fügte aber ihrer Einladung bei: "Schwere Prüfungen wirst du bestehen müssen, bis dir dein Leben gesichert ist; denn meine Mutter, der dieses Schloß und der Berg gehört, legt jedem, der hierher kommt, allerlei schwere Proben auf, und wer diese nicht zu lösen vermag, den richtet sie zugrunde. Sei aber unverzagt, denn ich will dir durch jede Gefahr glücklich durchhelfen! Wisse übrigens, daß jene zwei Jungfrauen, die du bei mir am See gesehen hast, meine zwei Schwestern sind, die ebenfalls in diesem Schloß wohnen. Du wirst sie aber nicht zu Gesicht bekommen, denn die Bedienung der Fremden ist mir allein überlassen."

Kaum hatte sie dies gesagt, da kam ihre alte, eisgraue Mutter heran, begrüßte den Ankömmling mit aller Freundlichkeit und lud ihn ein, im Schloß seine Herberge zu nehmen. Der Förster nahm die Einladung dankbar an, und nachdem er sich am Abendessen gütlich getan hatte, begab er sich zu Bett.

Kaum hatte er am ändern Morgen sein Lager verlassen, da ging die Tür seines Schlafgemaches auf, und die Alte trat herein. Mit der widerlichsten Baßstimme brummte sie ihn an: "Weil du dich unterstanden hast, hierherzukommen, mußt du heute alle Bäume des gläsernen Berges umhauen und vor das Schloß bringen. Ist die Arbeit abends nicht vollendet, so sieh zu, wie es dir ergehen wird. An ein Davonkommen darfst du nicht denken, denn ohne meinen Willen kommt niemand über die Grenzen dieses Berges. Da hast du ein Werkzeug für deine Arbeit."

Mit diesen Worten warf sie ihm eine gläserne Hacke vor die Füße, und sogleich wackelte sie wieder zur Tür hinaus.

Dem Förster wäre bei der Rede der Alten ein wenig bange geworden, hätte er sich nicht an das freundliche Versprechen seiner Frau erinnert. Er ging nun mit seiner Hacke hinaus und warf vor allem einen Blick über den ganzen Berg. Holla, dachte er sich, das wird nicht so leicht gehen. Aber, du Narr, die Bäume sind ja von Glas, und Glas bricht leicht. So dachte er sich und wollte nun an den ersten Baum Hand anlegen. Aber er mochte sich anstrengen, wie er wollte, der Baum fiel nicht um. 89 Er wäre nun noch verzagter geworden, hätte er sich nicht wieder an die freundlichen Worte erinnert, die seine Frau gestern zu ihm gesprochen.

Er spazierte den ganzen Vormittag auf und ab, und seine Arbeit bestand darin, daß er den Berg von allen Seiten genau anschaute. Als die Sonne mitten am Himmel stand, brachte ihm seine Frau das Essen, sprach ihm Mut zu und machte sich anstatt seiner an die Arbeit. Das Werk ging so schnell voran, daß der Förster gerade einmal schauen und sich über die Geschicklichkeit seiner Gemahlin freuen mußte. Die Bäume purzelten um wie die Mücken, und in einer halben Stunde lagen sie alle vor dem Schloß aufgehäuft.

Abends kam die Alte, um zu schauen, wie es mit der Arbeit stehe. Sie zeigte sich ganz zufrieden, als sie die Bäume alle auf einem Haufen liegen sah.

Am ändern Morgen kam sie wieder in des Försters Zimmer, als er kaum aufgestanden war. "Heute", brummte sie, "mußt du allen Bäumen die Äste abhauen und Baumstämme und Äste kleinhacken, so daß sie zum Brennen tauglich werden." Nach diesen Worten wackelte sie wieder zur Tür hinaus. Der Förster nahm seine gläserne Hacke und ging hinaus zu den gläsernen Bäumen. Doch der ganze Vormittag ging vorbei, ohne daß auch nur ein einziger Baum gespalten wurde. Als die Sonne mitten am Himmel stand, brachte ihm seine Frau wieder das Essen und packte dann tüchtig an. Da flogen die Äste von den Bäumen herab und die Bäume und Äste in Prügel und Scheiter auseinander, daß es eine wahre Freude war zuzuschauen. Als die Arbeit beendet war, trat die Frau zu ihrem Mann, drückte ihm ein Fläschchen in die Hand und sagte: "Heute nacht wird dein Zimmer voll Rauch werden, so daß du ersticken müßtest, wenn du kein Gegenmittel zur Hand hättest. Trinkst du aber den Inhalt dieses Fläschchens, so wird dir der Rauch nicht schaden." Mit diesen Worten ging sie wieder von dannen.

Abends kam die Alte aus dem Schloß, um nachzusehen, ob die Arbeit vollbracht sei. Als sie sah, wie fleißig Bäume und Äste kleingehackt waren, zeigte sie sich sehr zufrieden und kehrte wieder in das Schloß zurück.

Es war wieder dunkel geworden, und der Förster begab sich in sein Schlafzimmer zur Ruhe. Kaum hatte er sich niedergelegt, so drang ein Rauch in das Zimmer, der immer dichter und dichter wurde, so daß der Förster ganz gewiß daran erstickt wäre, hätte er nicht schnell nach dem Fläschchen gegriffen und es ausgetrunken. Nachdem dies aber geschehen war, kam ihm der Rauch gar nicht mehr beschwerlich vor, sondern er schlief so frisch und gesund wie nicht oft in seinem Leben.

Am folgenden Morgen trat die Alte wieder ins Zimmer in der festen Meinung, der fremde Mann werde tot im Bett liegen. Als er ihr aber fröhlich entgegentrat, begrüßte sie ihn mit freundlichster Miene und beglückwünschte ihn, daß er alle drei Proben glücklich überstanden habe. Dann bat sie ihn, er möchte ihr seine Lebensgeschichte erzählen.

Der Förster begann seine Erzählung und kam auch darauf zu sprechen, wie er seine Frau geholt habe und wer diese sei.

Als die Alte vernahm, daß der Fremdling der Gemahl ihrer jüngsten Tochter sei, da wußte sie sich vor Freude nicht zu halten, bewirtete das Ehepaar aufs kostbarste und nahm erst nach drei Tagen Abschied.

Förster und Försterin kehrten zu ihrem Vater zurück, und dieser hatte eine Freude, die man gar nicht beschreiben kann.


Quelle: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Gesammelt durch die Brüder Ignaz Vinc. und Josef Zingerle, herausgegeben von Ignaz Vinc. von Zingerle. Innsbruck 1911