DAS VERZAUBERTE SCHLOß

Es lebte einstens ein reicher, mächtiger Graf. Der hatte drei Söhne, von denen die zwei ältesten ziemlich herangewachsen waren, als ihre liebe Mutter starb; der dritte war aber noch sehr jung und klein. Die zwei älteren hatten keine größere Freude, als auf die Jagd zu gehen oder mit den Pferden sich herumzutummeln und den jüngsten Bruder zu necken; denn der blieb den ganzen Tag bei seinem trauernden Vater zu Hause und fand nur Freude an seinen schönen Geschichten und Erzählungen. Deshalb liebte ihn auch der Vater sehr.

So ging es mehrere Jahre. Der Jüngste war größer geworden, und der Vater hatte sich allmählich über den Tod seiner geliebten Frau getröstet; aber dafür kam jetzt ein anderes Unglück über ihn, er wurde sehr krank und bekam einen häßlichen Ausschlag. Von weit und breit wurden die berühmtesten Ärzte berufen, doch keiner kannte ein Kräutlein oder ein Wässerlein gegen diese häßliche Krankheit.

Da erzählte eines Tages ein altes Weiblein, daß weit von hier sich ein Schloß befände, mitten in einem See, und in diesem Schloß schlafe eine verzauberte Königstochter. Dort könne man ein Wässerlein bekommen, das alle Krankheiten heile und von dem der alte Graf ganz gewiß gesund würde.

Als dies der älteste Sohn hörte, sattelte er sogleich sein Pferd, nahm genügend Gold und Silber mit, schwang sich in den Sattel und sprengte auf und davon, um seinen Vater zu retten und die Jungfrau zu befreien. Als er etliche Tage so fortgeritten war, kam er an ein Wirtshaus, darin schien es sehr lustig zuzugehen, denn es wurde getanzt, gesungen und gesprungen, daß es eine Freude war und man den Lärm weithin hören konnte. Er machte verwundert und ermüdet halt. Sogleich sprangen einige der lustigen Brüder mit der vollen Weinflasche aus der Schenke und hießen den schmucken Reiter herzlich willkommen. Der ließ sich auch nicht zweimal laden, er sprang aus dem Sattel, übergab das Pferd dem Knecht zur Versorgung und eilte mit den ändern in die Gaststube hinein.

Hier wurde er von allen in die Mitte genommen und nicht mehr losgelassen; er mußte alles mitmachen, so zwar, daß er bald sein Geld samt dem Pferd verjubelt hatte.

Als nun der älteste Sohn zur bestimmten Zeit nicht kam, da sattelte der jüngere Sohn sein Roß, nahm viel Silber und Gold mit sich und sprengte auf und davon, um sobald als möglich den See und das Schloß zu erreichen.. Nach etlichen Tagen kam auch er zum Winshaus, in dem sein älterer Bruder sitzengeblieben war. Als dieser seinen jüngeren Bruder daherreiten sah, eilte er ihm mit seinen Zechbrüdern entgegen und nötigte ihn, auch ins Wirtshaus zu gehen. Da erging es ihm geradeso wie dem älteren; er blieb freiwillig so lange, bis er all sein Geld und Gut verpraßt hatte, so daß beide wider Willen bleiben mußten. Zu Hause wartete man mit Sehnsucht auf ihre Rückkehr, jedoch vergebens.

Da machte sich der jüngste der Brüder auf und versprach seinem Vater, das Heilwasser zu erobern, seine Brüder dann zu suchen und auch zurückzubringen. Er sprengte immerfort, Tag und Nacht ohne Unterlaß. Als er zum Wirtshaus kam, hörte er wohl seine Brüder von weitem schon lärmen, er gab aber dem Pferd die Sporen und flog mit Windeseile am Wirtshaus vorbei. Alles Rufen der Brüder und der ändern tollen Zecher war vergebens, er ritt unaufhaltsam fort. Endlich kam er an einen großen See und sah in der Mitte ein schönes Schloß. Der Beschreibung nach mußte es das Schloß sein, das er suchte.

Als er nun am Ufer auf und nieder ritt und forschte, wie er wohl ins Schloß kommen könnte - denn er sah weder Brücke noch Schiff -, da erblickte er ein altes Weiblein, das im See mit dem Wasser kämpfte und dem Ertrinken sehr nahe war. Voll Mitleid sprang er ins Wasser und zog das alte Weiblein ans Ufer. Dieses dankte ihm herzlich für die Rettung und fragte ihn, was er denn am See wollte. Da erzählte er ihr sein Anliegen.

"Da ist bald geholfen", sagte das Weiblein. "Weil du so barmherzig bist und mich von der scheinbaren Gefahr des Ertrinkens gerettet hast, so will auch ich dich unterstützen. Ich bin von dem mächtigen Zauberer zur Wächterin über das Schloß und die schlafende Prinzessin bestellt worden. Aber dies Geschäft wird mir schon zu langweilig, und die holde Jungfrau bedauere ich, deshalb will ich dich unterstützen, aber du mußt auch erfüllen, was ich dich heiße. Du mußt dein Pferd in viele Stücke zerhak-ken und an diesem Platz mich morgen um elf Uhr erwarten. Die Stücklein nimmst du mit, wenn ich dich ins Schloß führe; denn drinnen wimmelt es von den verschiedensten Tieren, kleinen und großen, wilden und zahmen. Wenn ich dir winke, so wirfst du ihnen ein Stück vor, damit du ungehindert durchgehen kannst; ebenso auf dem Rückweg. In dem Zimmer, wo sich die schlafende Prinzessin befindet, nimmst du die mittlere von drei auf einem Tisch stehenden Flaschen und dann eile wieder hinweg, denn um zwölf Uhr dreht sich alles im Schloß herum. Du wärest verloren, wenn du dich noch im Schloß befändest, und die Prinzessin wäre dann unerlösbar." Hierauf entfernte sich das Weiblein.

Er erfüllte getreulich, was ihm befohlen war. Mit den Stücklein seines Pferdes harrte er schon in aller Früh auf seine Führerin. Um elf Uhr erschien sie in einem Kahn und brachte ihn ins Schloß. Hier begegneten ihnen die seltsamsten Tiere, kleine wie große, zahme wie wilde, an den Türen aber hielten Löwen Wache, von denen er einem jeden ein Stück Pferdefleisch hinwerfen mußte. So kam er von einem Zimmer in das andere, und das Weiblein öffnete immer mit einem goldenen Schlüssel.

Das verzauberte Schloss
Prinzessin im verzauberten Schloss
von Ulla Erhart, 9 Jahre, freundlicherweise für SAGEN.at zur Verfügung gestellt
© Ulla Erhart, 20. August 2003

Endlich kamen sie in das Zimmer der Prinzessin, diese war aber eine wunderschöne Jungfrau und schlief fest auf einem herrlichen Bett. Der Jüngling war ganz entzückt von der holden Gestalt, er konnte sich daran nicht satt sehen; gerne wäre er geblieben, aber der nahe Glockenschlag und die Führerin mahnten ihn zur Eile. Schnell ergriff er die mittlere von drei Flaschen, die auf einem Tisch standen, warf noch einen Blick auf die Schläferin, die die Augen zu öffnen schien, und eilte dann blitzschnell aus dem Schloß, während er auf den Wink der Führerin seine Stücklein verteilte. Kaum hatte er das Schloß hinter sich, als auch die Glocke Zwölf schlug und im Schloß ein Gepolter und ein Lärm entstand, als drehe sich alles nach oben und unten. Doch plötzlich wurde es still. Glücklich brachte ihn das Weiblein mit der Flasche ans Ufer. Hier fand er zu seinem größten Erstaunen ein schöngesatteltes Pferd, das ihm froh entgegenwieherte; er schwang sich hinauf und sprengte wohlgemut der Heimat zu.

Nach einigen Tagen kam er spätabends beim Wirtshaus an, wo seine zwei Brüder sitzengeblieben waren. "Jetzt", sagte er zu sich selbst, kannst du dich wohl gütlich tun, nachdem du ein so schönes Stück Arbeit vollbracht hast." Er stieg deshalb ab und ging zu seinen Brüdern hinein. Diese waren seit dem Verlust ihres Geldes allmählich stiller geworden und saßen ganz trübsinnig in einem Winkel. Als sie ihn nun eintreten sahen, sprangen sie vor Freude auf und baten ihn, doch zu erzählen, wie es ihm ergangen sei. Er erzählte ihnen die ganze Geschichte und zeigte ihnen die Flasche mit dem Heilwasser. Damit sie am ändern Tag mit ihm nach Hause könnten, kaufte er ihnen die Pferde los und legte sich dann wohlgemut ohne allen Argwohn schlafen. Nicht so die Brüder. Diese wollten es ihm durchaus nicht gönnen, daß er das Heilwasser erobert hatte und dadurch seinen Vater retten konnte. Sie schlichen deshalb ganz leise an sein Lager, um zu lauschen, ob er wohl tief schlafe. Ihn umgaukelten die süßesten Träume. Indessen aber nahmen seine Brüder ihm heimlich die Flasche weg, teilten den Inhalt unter sich, füllten sie dann mit Quellwasser, stellten sie an ihren früheren Ort und schliefen dann fest bis an den Morgen. Ohne allen Argwohn sattelte der Jüngste sein Pferd und verwahrte seine Flasche wohl; auch die zwei älteren brachen auf und ritten froh mit ihm der Heimat zu.

Kaum angekommen, erzählte der Jüngste die ganze Geschichte, die er erlebt, zog dann seine Flasche hervor und wusch den Vater; doch blieb dieser krank wie zuvor.

Da fragte er seine zwei anderen Söhne, ob etwa sie das wahre Heilwässerlein gefunden hätten. "Wir haben wohl eines", sagten sie, und ein jeder zog seine Flasche hervor; und während sie den Vater wuschen, erzählten sie eine erdichtete Geschichte, wie sie dazugekommen, und nachdem sie zu erzählen und zu waschen aufgehört hatten, da wurde der Vater plötzlich gesund und blühend und schön wie ein Jüngling.

Da gingen dem Jüngsten die Augen auf und er beteuerte, daß ihm die älteren Brüder die Flasche gestohlen hätten. Aber er konnte das nicht beweisen und deshalb wurde sein Vater sehr zornig auf ihn. Da schlich er einsam und traurig durch die Hallen der Burg, und jetzt erst dachte er an die holde Prinzessin, die er seines Vaters wegen ganz vergessen hatte.

Wie er so herumirrte und nur an sie dachte, kam ein mit sechs Schimmeln bespannter Wagen dahergefahren; darin saß eine schöne Jungfrau, von einer zahlreichen Dienerschaft umgeben. Der Graf ging mit seinen drei Söhnen der Unbekannten entgegen und hieß sie aufs freundlichste willkommen, als der Jüngste in ihr die schlafende Prinzessin erkannte und seine Freude nicht mehr mäßigen konnte. Er eilte auf sie zu und bot ihr seine Rechte. Sie aber erzählte dem Grafen, wie sie durch den Jüngsten sei gerettet worden und jetzt da sei, ihn als ihren Bräutigam abzuholen. Als dies der Jüngste hörte, nahm er von seinem Vater und den beschämten Brüdern sogleich Abschied, stieg mit seiner Braut in den Wagen und fuhr mit ihr ins Schloß zurück. Dort hielt er Hochzeit und lebte viele Jahre mit ihr recht glücklich und zufrieden.


Quelle: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Gesammelt durch die Brüder Ignaz Vinc. und Josef Zingerle, herausgegeben von Ignaz Vinc. von Zingerle. Innsbruck 1911