Der kleine Schneider

Es war einmal ein armer Taglöhner, der sich mit seiner Frau und seinen drei Kindern nur kümmerlich durchbrachte. Als der älteste Sohn vierzehn Jahre alt war, kam er zu einem Schlosser in die Lehre; ebenso der Zweitälteste. Als aber an den jüngsten, namens Hans die Reihe kam, war er noch viel zu schwach, um in die Lehre zu gehen, und mußte also einstweilen seines Vaters Gänse hüten.

Eines Tages kam ein altes Weib zu den Taglöhnersleuten, mit welchen sie bekannt war. Dieses Weib stand im Ruf einer Zauberin, und die Mutter fragte sie deshalb, was sie mit dem kleinen Hansl anfangen sollten.

Die Alte sagte: "Ei was, laßt ihn einen Schneider werden, das ist ein Handwerk, das einen goldenen Boden hat. Und wißt ihr was, da habt ihr einen kleinen Fingerhut, den gebt dem Hans. So, und jetzt b'hüt euch Gott."

Mit diesen Worten gab sie der Mutter einen kleinen Fingerhut, welchen diese dem gerade vom Gänsehüten heimkehrenden Hans übergab. Er bedankte sich bei der alten Frau, und diese gab ihm, über den großen Dank erfreut, auch eine Schere und befahl ihm, nie mit einer anderen Schere oder einem anderen Fingerhut zu arbeiten als mit dem ihrigen.

Schon in der nächsten Woche kam Hans zu einem Schneider im Dorf. Weil er den verzauberten Fingerhut hatte, so konnte er das Nähen bald besser, als es je ein Schneider gekonnt hatte. Jetzt sollte er auch das Zuschneiden lernen; das ging nun mit seiner Schere auch recht gut, und darum wurde er bald von seinem Lehrherrn freigesprochen.

Er kam nun in die nächste Stadt, wo ihn aber niemand aufnehmen wollte, denn er war so klein wie ein sechsjähriger Knabe. Endlich fand er bei einer Schneiderswitwe Arbeit. Die machte ihn bald wegen seiner Geschicklichkeit zum Werkführer über ihre zehn Gesellen. Diese wollten schier vor lauter Neid zerplatzen, denn sie waren viel älter und schon lange bei der Witwe im Dienst. Sie sprachen also zueinander: "Wir müssen diesem Gelbschnabel einen Possen spielen, denn das leiden wir nicht, daß der kleine Sterzel unser Altgeselle ist."

Sie hatten bemerkt, daß Hans nie mit einer anderen Schere als der seinigen schnitt, und sie nahmen sich deshalb vor, ihm diese zu entwenden und sie selbst zu benutzen. Gedacht - getan. Einer der Gesellen nahm ihm eines Tages die Schere und schnitt damit einen Rock zu. Er spürte bald, wie die Schere von selbst fort und fort zuschnitt und seine Hand nachzog. Aber - o Schrecken! - als er den Rock entfaltete, war es ein Rock für einen Buckligen, und der eine Ärmel war um eine halbe Elle länger als der andere. Fluchend und scheltend warf er die Schere weg und verabredete sich mit seinen Kameraden, den Hans wegen Hexerei zu verklagen. Hans aber witterte das und entfloh. Als er schon ein paar Tagereisen zurückgelegt hatte, kam er in eine Stadt, in welcher alle Leute in Mehlsäcke gekleidet waren. Er trat unter das Stadttor und wurde von zwei solchen in rote Mehlsäcke gekleideten Männern gepackt und in ein Haus vor eine Versammlung von Männern geschleppt, die in schwarze Mehlsäcke gekleidet waren. Einer derselben schlug mit der Faust auf den Tisch, daß alles krachte, und schrie: "In welcher Kleidung kommst du in diese Stadt, und wer bist du?"

Hans sagte: "Ich bin ein Schneider; und was meine Kleidung betrifft, so ist sie nach der neuesten Mode."

"Ha, Unglücklicher", schrie der Richter - denn ein solcher war es -, "weißt du denn nicht, daß jeder, der diese Stadt betritt, einen Sack anhaben muß und daß du wegen Übertretung dieses Gesetzes hundert Stockstreiche bekommst? Und weißt du nicht, daß jeder Schneider, der diese Stadt betritt, um die Königstochter mit einem Riesen kämpfen muß?"

"Ja, wie sollte ich denn das wissen? " fragte Hans ganz verblüfft.

"Unwissenheit entschuldigt nicht", entgegnete der Richter, "du mußt mit dem Riesen kämpfen, die Prügel aber werden dir erlassen, denn du wirst ohnehin im Kampf mit dem Riesen dein Ende finden."

Auch gut, dachte Hans; wieder etwas gespart. Jetzt wurde er von zwei Soldaten ins Gefängnis geführt, wo er bis zum nächsten Tag bleiben sollte.

Der Gefangenenwärter fühlte Erbarmen mit dem kleinen Schneiderlein und blieb bei ihm die ganze Nacht auf, indem er mit ihm plauderte.

"He", sagte Hans, "jetzt sag mir einmal, warum geht ihr denn da in Säcken herum, und warum sind denn die Schneider bei euch gar so verhaßt? Ich begreife gar nicht, was es für ein Verbrechen ist, das ehrsame Schneiderhandwerk zu betreiben."

"Nun", sagte der Gefangenenwärter, "ich will's dir gleich erzählen. Unsere frühere Königin war sehr eitel, und diese Eitelkeit ging so weit, daß sie alle Tage sieben neue Kleider anzog. Obwohl das schrecklich viel Geld kostete, hätte es doch nichts gemacht, wenn nicht der Luxus auf der Königin Tochter übergegangen wäre. Diese trieb es aber noch viel ärger als ihre Mutter, denn sie tat den ganzen Tag nichts als Kleider an- und ausziehen. Da riß dem König die Geduld; er jagte die Königin davon, sperrte die Tochter in einen Turm und ließ sie von einem Riesen bewachen. Dann gab er das Gesetz heraus, daß alle Bewohner Säcke tragen sollten, und vertrieb die Schneider als die Urheber seines Unglücks aus seinem Reich und verbot ihnen, je wiederzukommen."

Am anderen Morgen, schon in aller Frühe, ging Hans von Häschern und Soldaten begleitet zum Wald.

Als sie so nahe gekommen waren, daß sie den Riesen schnarchen hörten, verließen die Häscher den Hans und sagten ihm, er solle nur gerade fortgehen.

Auf einmal stand das alte Weib, das ihm Fingerhut und Schere gegeben hatte, vor ihm und sagte: "Da hast du einen Igel und einen Vogel; gib acht auf beide, du wirst sie alle zwei noch recht gut brauchen." Sie sprach es und verschwand.

Hans ging indessen weiter, bis er plötzlich des Riesen Stimme hörte und dessen greuliche Gestalt hinter einem Baum hervortreten sah. "Du kleiner, elender Knirps, du willst dich mit mir messen? Nun gut, sieh einmal, wer die Kugel weiter schieben kann, ich oder du; hier ist eine Kegelbahn." Und er nahm eine Kugel aus dem Sack und schob sie weit, weit fort. Hans aber ließ seinen Igel laufen, und der ließ nicht eher nach, bis er vor des Riesen Kugel war.

Ärgerlich rief dieser: "Nun ja, das hättest du gewonnen, jetzt komm hierher. Siehst du, dieser Turm da hat fünfzehn Stockwerke, und an das letzte treffe ich." Er warf aber seinen Stein nur in das zwölfte Stockwerk. "So, nun wirf du auch!"

Hans ließ seinen Vogel auffliegen, und dieser flog weit über den Turm hinweg.

"Das hättest du auch gewonnen, jetzt gilt's nur, wer höher springt", sagte der Riese und sprang über eine Eiche.

"So", sagte Hans, "jetzt sei so gut, und biege mir diese Pappel um, damit ich sie messe." Der Riese bog sie um, und Hans hielt sich am Gipfel derselben an. "Kannst schon auslassen", rief er dem Riesen zu, "ich weiß schon, wie lang sie ist." Der Riese ließ los, und Hans flog, von der Pappel emporgeschnellt, über einige Bäume, die höher waren als die Eiche, über die der Riese gesprungen war.

Da rief der Riese: "Du hast dir das Leben gerettet und noch dazu die Königstochter gewonnen!" Dann hob er Hans in die Höhe, so daß er im dritten Stockwerk durch ein Fenster die Königstochter erblicken konnte. Er spazierte auch gleich durch das Fenster hinein.

Alsdann gingen beide, Hans und die Königstochter, zum König und erzählten ihm, daß der Riese überwältigt worden sei. Der König trat an Hans das Königreich ab, und Hans lebte mit seiner Frau noch lange Jahre.

Aber was hat der neue König mit den Wunderdingen getan? Mit der Schere hat er aus bösen Menschen gute geschnitten, und mit dem Fingerhut hat er seinen Soldaten die abgehauenen Köpfe, Arme und Füße wieder angenäht, und alle waren dann wieder so frisch und gesund wie vorher. Und wer's nicht glauben will, kann's bleiben lassen.

Anmerkung: Aus Viehofen bei St. Pölten (Niederösterreich). Vgl. das tapfere Schneiderlein bei Bechstein; Grimm, Nr. 20. Von Wilh. Grimm ist im III. Teil die weite Verbreitung nachgewiesen. Alle Märchen weichen aber von dem unsrigen bedeutend ab.
Quelle: Theodor Vernaleken, Kinder- und Haus- Märchen aus Österreich, Wien 1863