DAS HIRSEKORN

Es war einmal ein bitterarmer Junge, der nichts als ein kleinwinziges Hirsekorn besaß. Als seine Mutter gestorben war, hatte er nur dieses Körnlein geerbt, und das war nun sein ganzer Besitz.

Weil es auch keinen einzigen Menschen gab, der sich um ihn gekümmert hätte, dachte er: ‚Die Welt ist groß und schön, ich will mich darin umschauen.' Und er nahm sein Hirsekorn und wanderte fort.

Nach kurzer Zeit begegnete er einem alten Mann mit breitem Hut und grauem Mantel. Der Junge faßte Zutrauen zu dem freundlichen Alten und sagte: "Gott grüß Euch, alter Großvater!"

"Schönen Dank!" erwiderte der Mann. "Wohin gehst du denn?"

"Auf Reisen!" antwortete der Junge. "Und ich trage all mein Gut mit mir, ein kleinwinziges Hirsekorn. Meinst du, wird es mir nicht gestohlen werden?"

Da hatte der Mann Mitleid mit dem armen Knaben und sprach: "Hab keine Angst, mein Kind, du wirst es zwar verlieren, aber dabei auch manches gewinnen."

Abends kehrte der Junge in einem Dorf ein, klopfte bei einem Bauernhaus an und bat um Herberge. Als er schlafen ging, legte er sein Hirsekorn aufs Fenster und sagte zum Bauern: "Das ist all mein Reichtum. Wird er mir nicht gestohlen werden?"

"Schlaf ruhig, mein Sohn", war die Antwort, "es soll dir in meinem Haus kein Schaden geschehen!"

Am Morgen aber schien die Sonne ins Fenster, und das Hirsekorn erglänzte hell. Der Haushahn, der im Hof nach Körnern suchte, sah es, flog hin und pickte es auf.

Eben war der Knabe erwacht. Er schaute zum Fenster - da verschluckte der Hahn gerade das Hirsekorn. Der arme Junge weinte und klagte.

Doch der Bauer tröstete ihn und sprach:

"Der Hahn ist dein,
hat er gefressen das Hirselein."

Nun war der Knabe wieder froh, nahm den Hahn und wanderte weiter.

Abends kam er in einem andern Dorf wieder zu einem Bauernhaus und bat dort um Herberge. Er sprach: "Der Hahn ist all mein Reichtum. Wird er mir nicht gestohlen werden?"

"Schlaf ruhig, mein Sohn", erwiderte der Bauer, "auf meinem Besitz darf dir kein Schaden geschehen."

Frühmorgens ging der Hahn im Hof umher und suchte Futter. Kaum hatte er ein paar Körner gefunden, sah dies ein Schwein, packte den Hahn und biß ihn tot. Die Körner aber fraß es selbst.

Als der Knabe ein wenig später nach seinem Hahn sah, lag der tot im Hof. Da jammerte der Kleine: "Oh, weh mir, das Schwein hat meinen Hahn totgebissen!"

Doch der Bauer tröstete ihn und sprach:

"Nimm hin das Schwein,
es sei nun dein,
hat's den Hahn dir erbissen!"

Er band dem Schwein ein Seil an den Fuß, und der Knabe zog mit dem Schwein weiter.

Abends gelangte er wieder in ein Dorf und sprach abermals einen Bauern um Herberge an. Man nahm ihn freundlich auf, und der Junge sagte: "Das Schwein ist mein ganzer Reichtum. Wird es mir nicht gestohlen werden?"

"Schlaf ruhig, mein Sohn", erwiderte der Bauer, "auf meinem Hof darf dir kein Schaden geschehen!"

Als aber am Morgen eine Kuh des Bauern das fremde Schwein umherlaufen sah, rannte sie auf dieses zu und stieß es mit den Hörnern tot.

Der Knabe erwachte bald, ging hinaus und sah das Mißgeschick. Da jammerte er wieder, doch der Bauer tröstete ihn und sprach:

"Die Kuh sei dein,
hat sie das Schwein
dir erstoßen!"

Dann band er ihr ein Seil um den Hals und übergab sie dem Knaben.
Der wanderte nun fröhlich weiter, gelangte abends auf einen Edelhof und bat um Herberge. Als man ihn einließ, sprach er inständig zum Herrn des Gutes: "Diese Kuh ist all mein Reichtum. Wird sie mir nicht gestohlen werden?"

Und der Herr erwiderte: "Schlaf ruhig, armes Kind, auf meinem Gut soll dir kein Schaden geschehen!"

Als aber am Morgen die Pferde zur Tränke geführt wurden, sprang ein mutwilliger Hengst im Hof umher. Sobald er die fremde Kuh erblickte, lief er auf sie zu und erschlug sie mit den Hufen.

Da jammerte der Junge aufs neue, doch der Edelmann tröstete ihn und sprach:

"Nimm den Hengst für die Kuh
und den Zaum dazu!"

Und der Junge setzte sich auf das stattliche Roß, ritt in die weite Welt und vollbrachte viele Heldentaten.

Zum guten Ende ritt er noch auf den Glasberg, erlöste die gefangene Königstochter und wurde König.

Da seht ihr, was aus einem armen Jungen werden kann, wenn das Glück ihm beisteht!

Quelle: Österreichische Volksmärchen, gesammelt von Josef Pöttinger, Wien 1957