DAS MÄRLEIN VOM ROTEN APFEL

Es war einmal eine Bäuerin, die hatte zwei Mädchen: eine rechte Tochter und ein Stiefkind. Die Stieftochter mußte alle Arbeit verrichten und bekam mehr Schelten und Schläge als zu essen. Als sie einmal das Kühlein auf die Weide führte und weinte, fragte das Kühlein voll Mitleid: "Was weinst du so?" und bekam zur Antwort: "Weil ich hungrig bin." Da sprach die Kuh: "So oft du Hunger hast, darfst du meine Hörner abschrauben, wirst immer was finden." Das Mädchen tat es auf der Stelle, fand Milch und Brot und sättigte sich und schraubte die Hörner wieder an. So ging es eine Zeitlang gut, und das Kühlein und die Stieftochter wurden die besten Freunde.

Weil aber das Mägdlein daheim die Wassersuppe nicht mehr anrührte und immer rote Backen hatte und stets heiter war, vermutete die Stiefmutter ein Geheimnis und wollte dahinterkommen. Sie ging also einmal mit auf die Weide und legte sich ins Gras und schnarchte. Schnell und geräuschlos schraubte das hungrige Mädchen der Kuh die Hörner ab und sättigte sich und war guter Dinge. Und als die Stiefmutter sich erhob, trieben sie heim und sprachen kein Wort.

Daheim sagte die Mutter zur rechten Tochter: "Wenn die andere morgen das Kühlein von der Weide bringt, werden wir es schlachten." Das hörte "die andere" und schloß die ganze Nacht kein Auge, aber am nächsten Morgen, als sie das Kühlein auf die Weide führte, weinte sie bitterlich. Da fragte das Kühlein wieder voll Mitleid: "Was weinst du so?" und bekam zur Antwort: "Weil du heute noch geschlachtet wirst." - "Weine nicht", tröstete die Kuh, "deine Mutter hat uns gestern sicher belauscht, aber dir wird nichts Böses geschehen. Du wirst gewiß mein Wampchen 1.) waschen müssen. Wirf nur den roten Apfel, der darin ist, auf den nächsten Baum und sieh, was daraus wird! Leb wohl!"

Abends kam der Fleischer und schlachtete das Kühlein, und die Mutter sagte zur Stieftochter: "Geh zum Bach und wasche das Wampchen aus!" Das tat das Mägdlein und fand einen roten Apfel darin und warf ihn auf den nächsten Bäum. Da ward der allerschönste Vogel daraus, der hüpfte lustig von Ast zu Ast und sang die köstlichsten Lieder, wunderbar, und die Mutter und die zwei Mädchen konnten sich nicht satt sehen und satt hören.

Wie sie noch voll Verwunderung dastanden, kam auf einem prächtigen Schimmel der junge Königssohn geritten und blickte immer einmal nach dem herrlichen Vogel und dann nach den beiden Mägdlein, die ihm ganz gut gefielen. Endlich sprach er in allem Ernst: "Die mir den Vogel bringt, wird meine Braut."

Da lockten Mutter und Tochter den Vogel, wie sie nur konnten, aber der ging nicht in die Falle und sprang immer noch höher hinauf. So ermunterte denn der Königssohn die schöne Stieftochter, die sich bescheiden zurückgezogen hatte, es doch auch zu versuchen. Sie streckte schamhaft den Arm empor, und der Vogel flog ihr auf die Hand, ließ sich streicheln und ergreifen.

So wurde die brave Stieftochter durch den roten Apfel aus dem Wämpchen des Kühleins eine glückliche Königsbraut.

1.) Wampe, auch Koder (schriftsprachlich Wamme) = die von der Kehle bis zur Brust herabhängende Hautfalte des Rindes.


Quelle: Die schönsten Märchen aus Österreich, o. A., o. J.,