VOM DAUMENLANGEN HANSEL

Es war einmal ein armer Schneider, der hatte fünf Söhne; vier davon waren nicht eben groß und auch nicht gerade klein, sondern sahen aus wie andere Leute; der fünfte war aber nicht länger als ein Daumen. Weil er nun gar nicht wachsen wollte, hatte er viel Spott zu erleiden, und die Brüder machten ihm das Leben schwer. Da sagte der Kleine zum Vater: "Es freut mich nicht mehr zu Hause, wo mich alle auslachen, ich will einmal in die Welt hinauswandern und zusehen, ob ich nicht irgendwo mein Glück mache."

"Brav, mein Hansel!" sagte der Schneider. "Recht hast! Laß dich nur nicht unterkriegen. Auf die Länge kommt's nicht an, sondern auf den Verstand. Wer weiß, ob du's nicht noch einmal weiter bringst als deine Brüder!" Weil er ihm aber gar nichts anderes mitgeben konnte, nahm er eine lange Nadel, machte mit Siegellack einen Knopf oben drauf und sprach: "Da hast du einen Degen."

Hansel band sich die Waffe um den Leib, nahm Abschied von Eltern und Brüdern und ging auf die Wanderschaft. Er war noch nicht lange gegangen, da kam er an einen Bach. "Wie komm' ich da hinüber?" fragte er sich selber. Weit und breit war kein Steg zu sehen. "Kann ich nicht hinüber, so kann ich doch weiter", sagte der Hansel schließlich ganz vergnügt, nahm eine Nußschale vom Ufer auf, warf sie ins Wasser und sprang hinein. Das Bächlein trug ihn jetzt so leicht und flink, daß er hundertmal so schnell vorwärts kam. Ehe er sich's versah, schwamm sein Boot auf einem breiten Fluß, der ihn schnurgerade ins Meer führte.

Da machte der Hansel große Augen! Wie er aber gerade im schönsten Staunen war - schwupp! -, kam ein Walfisch und verschlang ihn mit einem Schluck Wasser.

Wäre der Hansel größer gewesen, dann wäre es ihm zwischen den Zähnen dieses groben Gesellen gar übel ergangen. So aber hatte er das Glück, ihm gerade in einen hohlen Zahn zu kriechen, ehe er zermalmt werden konnte. Da saß er nun und war ganz gut aufgehoben; nur seinen Kahn hatte er verloren, und an eine Flucht war ohne Fahrzeug natürlich gar nicht zu denken.

Um sich die Zeit zu vertreiben, machte er mit seinem Degen Fechtübungen. Wie er aber so herumfuchtelte und nach allen Richtungen stieß, kriegte der arme Walfisch gewaltige Zahnschmerzen, so daß er ganz wild im Ozean herumfuhr und ohne viele Mühe von Fischern gefangen wurde.

Der Walfisch wurde ans Land geschleppt, geschlachtet und zerteilt. Die Zähne kaufte ein Händler und brachte sie auf den Markt. Dort erstand ein Wirt gerade den Zahn, in dem der daumenlange Hansel saß, und trug ihn nach Hause. Auf dem Heimweg hörte der Wirt plötzlich reden. Er schaute sich um und sah, daß er den Weg auf und ab ganz mutterseelenallein war. Da bekreuzigte er sich und lief, was er konnte, daß der Walfischzahn ihm aus der Tasche sprang und der Hansel mitsamt seinem Degen herausfiel. "Fürcht dich nicht!" piepste der Hansel und stellte sich dem Wirt vor die Füße. "Wenn du mich in deinen Dienst nehmen willst, kann ich dir vielleicht nützlich sein!" Der Wirt schaute den spaßigen kleinen Kerl an und mußte aus seinem Schreck heraus herzlich lachen. "Na, schwere Arbeit kannst du wohl nicht leisten", rief er, "aber du gefällst mir. Komm halt mit mir. Will einmal sehen, wozu du taugst." Und er steckte ihn wieder in die Tasche und trug ihn zu sich nach Hause.

Der daumenlange Hansel aber war von dem langen Aufenthalt im Walfischzahn an Wärme gewöhnt; darum schlug er sein Quartier hinterm Ofen auf. Gleich in der ersten Nacht wurde er aus dem besten Schlaf geweckt durch ein Gepolter beim Fenster der Wirtsstube. Da sah er zwei Diebe sich einschleichen und über die Geldlade losgehen. Der eine hatte ein Stemmeisen und wollte die Lade aufbrechen. Als sie nicht nachgab, wurde er zornig und rief: "Der Teufel soll mich holen!" Da sprang der daumenlange Hansel, der sich's in der Ofenröhre bequem gemacht hatte, mit einem Satz auf die Ofenbank herunter, stellte sich, kohlschwarz vom Ruß, wie er war, mit gespreizten Beinen hin und rief, so laut er konnte: "Hier bin ich!"

Die beiden Diebe waren vor Schreck wie gelähmt. Das Werkzeug fiel ihnen aus den Händen, und mehr tot als lebendig stürzten sie durchs Fenster wieder davon.

Am Morgen erzählte Hansel dem Wirt, was sich begeben hatte. Der war wohl zufrieden mit dem ersten Dienst seines neuen Knechtes und versprach ihm hohen Lohn, wenn er ihm treu das Haus bewachen wolle.

Das tat der Hansel nach Kräften. Überall hatte er seine Nase. Wo man ihn am wenigsten vermutete, sprang er plötzlich aus einer Bodenritze oder aus einem Schlüsselloch; und so war der kleine Aufpasser bald von allen Knechten und Mägden gehaßt und gefürchtet. Ohnehin ärgerten sich alle über den Jungen, der nichts arbeiten wollte und doch vom Herrn so über die Maßen verwöhnt wurde. Die eine Magd war ein naschhaftes Ding; nachts schlich sie immer aus ihrer Kammer und lief in den Garten, um dort Obst zu stibitzen, das sie dann in ihrer Schürze zu sich hereintrug. Was aber tat der daumenlange Hansel? Er streute, während sie im Garten war, Erbsen vor ihre Türe und stellte einen Stoß Teller darauf. Die Magd tappte im Finstern herein, trat auf die Erbsen, rutschte aus und fiel mit mächtigem Donnergepolter zu Boden, wobei sie die Teller zerschlug. Natürlich wurden durch den Lärm alle, die im Hause schliefen, geweckt und stürzten herbei, um zu sehen, was es gäbe. Da lag die Naschkatze mit den gestohlenen Äpfeln und schämte sich fast zu Tode.

Die Mägde aber hatten schließlich einen solchen Zorn auf den Kleinen, daß sie beschlossen, ihn um jeden Preis aus dem Hause zu beißen. Die eine bestreute den Boden abends mit Dornen, die sie von einem Rosenstock abgeschabt hatte; da sollte er sich bei seinen nächtlichen Spaziergängen die Füße wund treten. Hansel aber war klüger als sie. Während sie in dem einen Zimmer Dornen streute, klaubte er sie im andern zusammen und trug sie dem Mädchen ins Bett; er versteckte sie in den Pölstern und Decken so gut, daß man sie nicht sehen konnte. Ihr könnt euch denken, daß die Magd damals nicht gut geschlafen hat.

Schließlich sah aber der Hansel, daß seines Bleibens hier nicht länger sein könne, denn alle trachteten ihm nach dem Leben; so ging er zum Wirt und bat ihn, ihm zum Lohn für seine Dienste ein Pferd zu schenken. Der Wirt wollte nicht nein sagen, suchte aber die elendste, krummbeinige alte Mähre aus, die er ohnehin zu nichts mehr verwenden konnte. Der Hansel war froh, sagte "Vergelt's Gott!" und setzte sich dem Pferd ins Ohr. Er wußte es so zu lenken, daß es in der gewiesenen Richtung fleißig forttrabte und ihn geradewegs zu seinem Vater zurücktrug. Da war die Freude groß! Nun ging's ans Erzählen. Als aber die Brüder sahen, daß er von seiner Reise nichts anderes mitgebracht hatte als das alte, lahme Pferd, lachten sie ihn aus, und der Vater sagte: "Soll mir das alte Tier auch über der Schüssel liegen? Ich habe genug Müßiggänger zu füttern."

"Laßt mich nur machen, Vater", sagte der Hansel, "durch das Pferd sollt Ihr zum reichen Mann werden!" Und dann vertraute er ihm seinen Plan an.

Am nächsten Sonntag war Jahrmarkt in der Stadt; da zog der Schneider mit dem Pferd vors Rathaus und ließ sich zum Bürgermeister führen. Er eröffnete ihm, er habe ein wunderbares Pferd zu verkaufen, das sprechen könne. Der Bürgermeister ließ sich das Tier zeigen und stellte ihm allerlei Fragen; im Ohr des Pferdes aber saß natürlich der Hansel und gab Antwort.

Der Bürgermeister rief alle Ratsherren zusammen und ließ sie das Wunder sehen und hören; und sie beschlossen einstimmig, das Wunderpferd für die Stadt zu kaufen, koste es, was es wolle.

Der Schneider, nicht faul, forderte dreißigtausend Silbergulden und erhielt sie sogleich ausbezahlt. Dann lief er nach Hause, so schnell ihn seine zitternden Beine tragen wollten.

Die Ratsherren aber tafelten und ließen sich zum Dessert das weiße Pferd in den Saal führen; da fragten sie es mancherlei; aber plötzlich fiel es einem der Herren auf, daß das Pferd beim Reden den Mund nicht auftat. Man untersuchte es genau und fand schließlich den daumenlangen Hansel. Der wurde nun auf den Tisch gestellt und verhört, und es wurde ihm gleich der Prozeß gemacht, und der Bürgermeister schwor, der kleine Betrüger müsse gehängt werden. Hansel glaubte schon, daß er verloren sei. Da sah er auf einem Teller neben sich auf dem Tisch ein Stückchen Schweizer Käse mit großen Löchern stehen, und während der Bürgermeister die große Rede hielt, in der Hansel zum Tode verurteilt wurde, sprang er mit einem Satz in den Käse und verschwand darin. Vergebens suchten sie ihn alle; endlich kamen sie überein, das Ganze sei nur Teufelsspuk gewesen, und beschlossen, nicht weiter daran zu denken.

Der Käse aber wurde mit anderen Speiseresten zum Fenster hinausgeworfen; der Hansel fraß sich heraus und machte sich in aller Stille davon. Dann kehrte er zu seinem Vater zurück und lebte mit ihm und seinen Brüdern glücklich und hochgeehrt bis ans Ende seiner Tage.


Quelle: Die schönsten Märchen aus Österreich, o. A., o. J.,